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Fehlinterpretation der Murmel

■ Le Grice, legendärer Videokünstler und Erkenntnisproduzent, heute in der Weserburg

Ein 75-Sekunden-Filmzwerg von Malcolm Le Grice zeigt eine Frau auf einem Straßenbasar. Sie greift von einem Stand eine kleine Glasmurmel ab. Das wirkt, als ginge es um mehr als spiegelnden Firlefanz, als würde sich jemand einen kleinen, privaten Symbolvorrat fürs Überleben in schwierigen Zeiten zusammenklauen. „Beabsichtigte Fehlinterpretation“nennt der dokumenta-, MOMA- und Louvreerprobte britische Videokünstler dieses Verfahren der Überkodierung unscheinbarer Augenblicke. Auch in zufälligen, winzigen Begebenheiten steckt ein allegorisches Potential, aus dem sich weitreichende Erkenntnisse gewinnen lassen. Heute abend zeigt Le Grice in der Weserburg, wie man sie bergen kann. Eingeladen hat ihn Christine Ruffert vom Kino 46 für ihre ambitionierte Reihe „Experiment“.

Neben Alltagssituationen denkt Malcolm Le Grice besonders gerne Kunststücke weiter. Zum Beispiel das „Frühstück im Freien“von Manet, Filmschnipsel von Lumiers, Material aus alten Wochenschauen oder Bilder von Punks – und zwar solche, die wiederum Picasso weiterdenken. Am Ende stehen flüchtige Filmminiaturen über irgendeinen Balkon an irgendeinem Regentag oder 4-Stunden-Schinken, die in fünf Jahren Schufterei aus privaten und öffentlichen Bildern komponiert wurden.

Der Fan von Fortschreibungsprozessen will natürlich seinerseits keinesfalls am Ende einer Einbahnstraße der Kunst feststecken. Auch seinen Zuschauern gönnt er das Recht, mit dem vorgedrechselten Faden weiterzuwursteln. Und so stürzte sich Le Grice natürlich ganz früh auf die neuen interaktiven Medien, bei denen der Betrachter das letzte Wort über happy end oder Totschlag hat.

The medium is the message. Eine Erkenntnis, die Le Grices Aufmerksamkeit auf Formales lenkte: Wie reagiert das Auge, wenn es zwischen Filmsequenzen von heftig aufblitzendem Licht gepiesackt wird? Wie addieren oder minimieren sich Bilder in der Überlagerung? Was stellen weiße Pausen mit einer Bilderfolge an? Wird sie intensiviert oder zerstört?

The medium is the message. Eine Einsicht, die Le Grise überdies zum Bastler werden ließ. 1966 schraubte er angeblich seine eigene Kopiermaschine zusammen. Heute programmiert er seinen uralten Atari.

In seitenlangen Aufsätzen läßt sich der Wahrnehmungsforscher in ziemlich trockener, teils lyotardinfizierter Sprache aus über nichtlineare Narration, das Aufbrechen der großen Erzählung, die „Tyrannei des konsequenten Schlusses“und die Freiheit des Rezipienten. Das Ziel aber ist äußerst romantisch und überschwenglich – und wunderbar selbstvertrauend: „Die Hervorbringung unvorhersehbarer Ereignisse“. Eine Weiterführung der Expanded-Cinema-Bewegung (Valie Export war im deutschsprachigen Raum die prominenteste Vertreterin) der 60er und 70er Jahre, so muß es sein.

Eigentlich ist der komplexe Denker ein Liebhaber von komplexen Vorführungsarrangements mit querständiger Raumanordnung obskurer Projektionsapparaturen, Marke Eigenbau. In der Weserburg muß er sich mit einem Videobeamer von der Stange begnügen. Vermutlich keine Einbuße in Zeiten, wo die Bilder an sich durch digitale Verfremdungstechnik verschachtelt genug sind. bk

Weserburg, 19h

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