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Familie Ketterle im Inselparadies

Birgit Ketterle und ihr Mann sind 1986 mit Baby Lena im Kleinbus nach Palma geflüchtet  ■ Aus Puntagorda Reiner Wandler

Fast wie im Allgäu“, sagt Birgit Morasch Ketterle leicht nachdenklich, bevor sie erneut in das Brot beißt. Der skandinavische Kohleofen faucht, draußen pfeift der Wind ums Haus und treibt Nebelschwaden umher. Die Wiesen glitzern im Sonnenlicht, wenn der Himmel zwischen den einzelnen Regenschauern kurz aufklart. So weit das Auge reicht, nur grüne, unberührte Landschaft. Wäre da nicht das Meer am Ende der sanft abfallenden grünen Hügelketten, nein, der Unterschied zum Allgäu würde kaum auffallen. Alt wäre die 32jährige dort auf ihrem Hof in Obergünzburg bei Kempten geworden, wäre nichts Unvorhergesehenes dazwischengekommen.

Die beiden Kinder, die zehnjährige Lena und der fünfjährige Moritz, sind in der Schule und im Kindergarten, ihr Mann Christoph bei der Arbeit. Zweites Frühstück ohne Hektik. Selbstgebackenes Vollkornbrot, Biohonig und Mandelmus, dazu Schwarztee aus einer großen, klobigen Tontasse. Birgit, kurzes, hennarotes Haar, selbstgestrickter Pullover, beginnt zu erzählen: „Ich erinnere mich genau an die Zeit Ende April 1986. Ich hatte damals den Bioladen in Obergünzburg.“ Die Schreinerausbildung ihres Christoph lag in den letzten Zügen, die sechs Monate alte Lena krabbelte ihrem ersten Sommer entgegen. Die perfekte Familienidylle, bis zu dem Tag, als die Nachrichten bekanntgaben: Reaktorbrand in Tschernobyl.

Niemand wußte, was das bedeutete. Dann kamen, lange vor den ersten offiziellen Becquerelwerten, einige Kunden ganz aufgeregt in Birgits Laden. Sie hatten selbst irgendwo einen Geigerzähler aufgetrieben und Strahlenmessungen unternommen. Horrende Werte. Die Nachrichten begannen sich zu überschlagen. Langsam wurde das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe klar. „Lena war damals gerade im Alter, um sie abzustillen, und die Frage nach der ersten festen Nahrung beschäftigte uns.“ Ratlosigkeit. „Als dann auch noch empfohlen wurde, die Kinder nicht mehr draußen spielen zu lassen, war uns schnell klar: Wir müssen hier weg.“

Eine mittlerweile veröffentlichte Karte mit der Falloutzone wurde zu Rate gezogen – die Grenze Barcelona. Der alte Benz- Campingbus war bald reisefertig, und los ging's, sieben Monate kreuz und quer durch ganz Spanien und von dort auf die Kanarischen Inseln. Zwei Erinnerungen sind bei Birgit bis heute wach. „Als wir endlich in Spanien ankamen, ging ich sofort auf den Markt und kaufte wie verrückt Obst. Mit einem Heißhunger wie nie zuvor biß ich in alles hinein.“

Und dann die Ankunft auf La Palma, der westlichsten der Kanarischen Inseln, mitten im Atlantik, vierhundert Kilometer vor der marokkanischen Küste. „Die Gebirgslandschaft, das saftige Grün. Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Als dann Christoph auch noch von einem deutschen Schreiner angeboten bekam, ins Geschäft einzusteigen, war die Wahl getroffen. Ein Grundstück wurde gesucht und nahe dem Dorf Puntagorda an der Nordwestküste gefunden. Der Tee ist alle. Birgit geht zum Herd und setzt frisches Wasser auf. Arbeitsflächen, Küchenschränke, Tisch und Stühle, alles ist aus Holz, selbstgeschreinert. Überall Pflanzen, Fotos in Holzrahmen und Selbstgemaltes der Kinder – in den Regalen stauen sich Papiertüten mit verschiedensten Kräutermischungen, daneben Müslipötte und Bücher für vegetarische Küche. Fünf Jutesäcke mit Getreide hängen von der Holzdecke herab, gleich darunter die elektrische Steinmühle. „Wir hängen nicht am Netz. Da sind wir konsequent“, erklärt Birgit, um bloß keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen. Beleuchtung, Herd, Kühlschrank bis hin zu Waschmaschine und Computer, alles läuft mit Solarstrom.

Birgit brüht eine neue wohlduftende Mischung auf und macht es sich wieder gemütlich. „Aber wir hatten ja nichts auf der hohen Kante. Also mußten wir wieder zurück nach Deutschland“, setzt sie erneut an. Es begann das – von heute aus gesehen – schlimmste Jahr. Christoph arbeitete rund um die Uhr, um ein Grundkapital anzusparen. Birgit kehrte zurück in den Bioladen. „Damit hatten wir die Möglichkeit, uns trotz radioaktiver Verseuchung zumindest gesund zu ernähren.“ Sie verkochte ausschließlich außerhalb der Falloutzone angebautes Gemüse, meist aus Israel. Lena tauschte die Spielwiese hinter dem Hof gegen das Wohnzimmer ein.

Damals beneidete Birgit die Leute, die einfach sofort auswanderten, ohne lange nachzudenken. Heute nennt sie diese Menschen abfällig „Panikflüchter“. Die meisten haben es nicht geschafft, sich eine neue Existenz aufzubauen, und sind längst wieder in Deutschland zurück. Nach der endgültigen Übersiedlung nach La Palma lebten die Ketterles das erste Jahr im Campingbus. Christoph fing sofort in der Schreinerei an, für den Hausbau blieb nur nach Feierabend und am Wochenende Zeit. Spanisch lernten die beiden nebenbei, im direkten Kontakt mit den Nachbarn.

Jetzt erinnert nur noch das Wrack des Campingbusses oben an der Grundstückseinfahrt an die Zeiten voller Entbehrung. Die Räder fehlen, der blaue Lack ist an vielen Stellen längst abgeblättert. Verblichene Aufkleber rund ums Klappdach zeugen von besseren Zeiten. Selbst als Spielplatz für die Kinder taugt das Blechskelett nur noch bedingt. Wer die Türen öffnet, dem schlägt ein bestialischer Gestank entgegen. Die Ratten haben sich in der ehemaligen guten Stube von Ketterles eingenistet und alles zerfressen. So gerät der alte Benz immer mehr in Vergessenheit.

Hinter den Hecken, die ihn langsam umwuchern, liegt das ganz im traditionellen kanarischen Baustil erstellte Haus. Eine große Terrasse mit Blick aufs Meer dient als zweites Wohnzimmer. Daneben der Garten, Birgits neue Lieblingsbeschäftigung. Die Temperaturen, die fast nie unter 15 Grad sinken, ermöglichen zwei Ernten im Jahr – im Winter Kartoffeln, Kraut, Kohlrabi usw., im Sommer die südlichen Gemüsesorten wie Paprika, Zucchini, Auberginen.

Die Streuobstwiese hinter dem Haus ist keine, es sind Mandelbäume. Sie bilden den Grundstock für einen kleinen Betrieb zur Mandelmusherstellung. Längst kauft Birgit auch Mandeln zu. Sie verarbeitet wöchentlich 50 Kilogramm. Die Maschinen dazu kommen aus Deutschland. „Mit EU-Subventionen zur Entwicklung ländlicher Räume.“ Drei Supermarktketten beliefert Birgit mit ihrem Brotaufstrich, ähnlich der amerikanischen Erdnußbutter. Die bunten Etiketten auf den Gläsern sind zweisprachig, spanisch und deutsch, Birgit kennt ihre Kundschaft.

Doch das Mandelmus ist ebenso wie das Ferienhäuschen, das die Ketterles hinter dem nächsten Hügel gebaut haben und an Urlauber

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vermieten, nur ein Zubrot. Die Haupteinnahmen kommen aus Christophs Schreinerei. Das Geschäft floriert. Den meist deutschen Kunden ist nichts zu teuer, wenn es um den Ausbau ihres Urlaubseigenheimes oder der Privatjacht geht. Neben den drei deutschen Besitzern arbeiten mittlerweile vier spanische Angestellte in dem Betrieb unten im Dorf.

Birgit ist zufrieden. Und Heimweh kenne sie überhaupt nicht: „Mal kurz, während der Schwangerschaft mit Moritz. Aber schwangere Frauen sind eh immer komisch drauf.“ Dann fällt ihr doch noch eine Gelegenheit ein, bei der sie ganz gerne in Deutschland gewesen wäre: „Als die Mauer fiel.“ Weltempfänger und deutsche Wochenzeitungen hätten da nicht ausgereicht, um wirklich zu verstehen, was passierte.

Heimweh, das verneint auch Christoph, als er nach einem Neunstundentag nach Hause kommt. Er sitzt im dicken Wollpullover in der Küche. Wieder dampft ein Tee auf dem Tisch. „Ich habe mich hier mittlerweile richtig verwurzelt und genieße das abgeschiedene Leben. Wäre es nicht wegen der Kinder, wir wären noch weiter in den Norden gezogen“, sagt Christoph.

Doch nach Puntagorda beginnt das wirkliche Niemandsland von La Palma. Schulbusse in die Gymnasien in Los Llanos, dem nächsten größeren Ort, gibt es dort nicht mehr. Wer dennoch den Drang nach höherer Bildung verspürt, lebt die ganze Woche im Internat. Das wollte Christoph seinen Kindern nicht zumuten.

Lena und Moritz haben gemischte Gefühle, wenn sie an Deutschland denken. „Ich spüre nichts von dem Atomunfall, wenn ich in Kempten bin“, wundert sich Lena. Sie verbindet mit den Ferienreisen zu Oma und Opa ins Allgäu nur angenehme Erinnerungen, die Badeausflüge an die Seen im Sommer und der Schnee im Winter. „Und in der Stadt zu sein ist nicht schlecht, da muß man nicht so weit mit dem Auto fahren, wenn man mal wo hin will.“

Auf die Frage, was sie am meisten vermissen, wenn sie in Kempten sind, antwortet sowohl Lena als auch Moritz, ohne lange nachzudenken: „Unsere Hasen und Meerschweinchen.“ Im Frühjahr, wenn sie Junge haben, ist vor allem Moritz kaum von den Ställen zu trennen.

Der fünfjährige Bub kennt zur Zeit nur ein Problem, seine mangelnden Spanischkenntnisse. „Nächstes Jahr komm' ich nämlich in die Schule“, sagt Moritz. Er hat schon eine Lösung gefunden. „Wenn wir abends ins Bett müssen, frage ich Lena, wie das alles auf spanisch heißt. Aber ppschtt! Bloß nichts Mama verraten, die denkt nämlich, daß wir schlafen.“

Auch wenn die Sätze noch etwas verdreht klängen, er mache Fortschritte, bestätigt die Schwester nicht ohne Stolz. Lena spricht, dank der Schule, als einziges Familienmitglied ein perfektes und völlig akzentfreies Spanisch. „Ich habe allerdings nie Deutsch schreiben und lesen gelernt“, bedauert sie. Seit einiger Zeit schenken ihr die Eltern deutschsprachige Kinderbücher. Enid Blyton mag sie am liebsten. Das hilft. Die Briefe an Oma und Opa würden immer besser, bestätigen die Eltern, die großen Wert auf Rechtschreibung legen. Die Kindern sollen einmal wählen können, wo sie studieren wollen.

Plötzlich meldet sich Moritz wieder zu Wort, der seit einiger Zeit mit nachdenklichem Gesicht dabeisaß: „Ich bin hier der einzige Palmero“ – also auf der Insel geboren. Er schaut etwas verunsichert in die Runde, bevor er leise nachfragt: „Aber ein bißchen bin ich auch aus dem Allgäu, oder?“

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