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Falsche Fünfziger

■ Truffaut, nachgemacht: „Die kleine Diebin“

Wenn überhaupt irgend etwas schön war an den fünfziger Jahren, dann waren es die Wochenschauen, die Kinos und die Autos. Zumindest in den Augen von Regisseuren. In Frankreich gab es putzige Limousinen, deren Scheinwerfer sich wie Bullaugen in der Wagenmitte befanden: ein aufregendes technisches Detail, aber der Rest ist Zitat - Selbstzitat, und man ahnt schon, was jetzt folgen wird: Irgendein gealterter Regisseur wird all das cineastisch nachholen wollen, was er in seiner eigenen Jugend versäumt hat. Man müßte noch mal 15 sein und nicht so blöd wie damals.

Aber wenn das Originaldrehbuch von Truffaut stammt, rechtfertigt das alles: Es ist völlig überflüssig, darüber nachzudenken, was sich Truffaut zu dieser Geschichte gedacht hat: Das gibt es nicht zu sehen, leider. Bei Miller wirkt die Normabweichung vorgeschoben, die „kleine Diebin“ ist bei ihm eine kleine Wilde: rebellisch, unangepaßt, sexy - ein richtiger Sonntagsbraten. Charlotte Gainsbourg, die Tochter des Je t'aime-Duos Gainsbourg/Birkin, spielt diese ebenso störrische wie sperrige kleine Person überzeugend wie selbstbewußt. Bloß muß sie sich den Anschauungen ihres Regisseurs unterwerfen, und das tut sie auch, weil Miller sie groß herausgebracht hat.

Charlotte spielt Janine, eine Kleptomanin, die wirklich alles klaut, was nicht niet- oder nagelfest ist: Zigaretten, Seidendessous oder Kirchenkollekten. Warum tut sie das? Weil sie bei Pflegeeltern aufgewachsen ist und nicht genügend körperliche wie seelische Zuneigung bekommen hat. Liebe braucht sie, und die kriegt sie endlich, als sie aus der Provinz nach Paris geht und sich dort als Hausmädchen verdingt. Ein musikalischer Softie in den Vierzigern übernimmt ihre kulturelle Ausbildung, nachdem sie sich von einem Handwerksburschen entjungfern ließ. Doch die Bildung macht sie ebenfalls nicht zum braven Mädchen, denn schon ist sie mit Raoul zusammen, der ihr Schicksal teilt: Auch er mußte ohne Eltern aufwachsen.

Es folgt ein Abstecher in die Besserungsanstalt, in der sie um ein Haar lesbisch wird oder aber eine berühmte Fotografin. Indessen, nichts von beidem passiert - statt dessen wird sie schwanger. Kurze Zeit spielt sie mit dem Gedanken, das Kind abzutreiben, aber dann trifft sie den Entschluß, das Kind auszutragen. Womit sich für Janine die Jugend wohl ebenso erledigt hat wie für Claude Miller.

Einen so blöden wie langweiligen Film über jugendliche Devianz aus der Sicht alternder Voyeure habe ich lange nicht mehr gesehen, zumal er auch noch so keusch inszeniert ist, wie es in der französischen Provinz in den fünfziger Jahren zugegangen sein muß. Zum Glück bricht Janine immer wieder aus dieser Atmosphäre aus - manchmal tut Charlotte es sogar für sich und nicht für den Regisseur. Aber das ist ebenso selten wie schön.

Lutz Ehrlich

Claude Miller: Die kleine Diebin, Drehbuch: Fran?cois Truffaut, Claude de Givray, Kamera: Dominique Chapuis, mit Charlotte Gainsbourg, Frankreich 1988, 110 Min.

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