piwik no script img

FINSTERNIS IM KUNSTSACK

■ Franz Erhard Walther im Kupferstichkabinett

„Blindobjekt“: Sieht aus wie ein über die Wiese wandelnder Schlafsack. „In verschlossener Sackform umhergehen; dabei ist nur ein Stück vom Boden sichtbar“, gibt Franz Erhard Walther die Handlungsanweisung zu seinem Objekt. Der Sack besteht nicht als Kunstwerk an sich - seine voluminöse Form und seinen Status als Kunstobjekt erhält er erst durch einen Benutzer und nur für die Zeitdauer der Aktion, deren Ablauf aber wiederum vom Künstler vorhergeplant ist. Im Objekt „Für Hügel und Berge“ rollt man eingewickelt in eine Stoffrolle einen Hügel herab; mit hohen Mützen auf dem Kopf oder weißen Taschen um die Füße werden „Positionen“ in der Landschaft markiert; in „Zentriert“ liegen vier Menschen in vier Taschen, die so auf ein Stoffkreuz genäht sind, daß die Köpfe der Menschen in die Mitte und zueinander zeigen.

Alle diese Objekte Walthers stammen aus seinem 1.Werksatz, entstanden zwischen 1963 und 1969, den jetzt das Kupferstichkabinett Dahlem mit Fotografien und Werkzeichnungen (größtenteils Geschenke des Künstlers an das Kupferstichkabinett) dokumentiert. Walthers Proteste gegen die hermetisch geschlossene Form des Kunstwerks drücken sich schon in seinen frühen Zeichnungen aus, die 1957 entstanden, als er gerade sein Studium an der Werkkunstschule Offenbach begann. Mit einem Rasiermesser schnitt er aus den Blättern Schnipsel heraus, so daß die gezeichnete Form ihren Zusammenhalt verlor und die motivische Erkennbarkeit verschwand.

Er suchte nach Möglichkeiten, den Rezipienten aus seiner bloß passiven Rolle als Betrachter herauszulocken und ihm die Kunst nicht einfach als festes, unbeeinflußbares und abgeschlossenes Werk vorzusetzen. In den Objekten seines „1.Werksatzes“ sollten die Rezipienten zu Akteuren werden, die nicht nur mit den Augen sehen, sondern mit ihrem ganzen Körper erfahren. Die Richtungen im Raum zu erkunden, sich über Volumen und Gewicht des eigenen Körpers als ständige Basis der Erfahrungen bewußt zu werden, Beziehungen zu anderen in stofflichen Verbindungen und meßbaren Entfernungen darzustellen: Ähnlich wie in den alten Konzepten der Bauhausbühne oder in den immer wiederkehrenden Ansätzen zur Erneuerung des modernen Tanzes begann Walther die Körpersprache von Grund auf zu buchstabieren. Die Bedeutung des eigenen körperlichen Seins sollten den Sinnen wieder zugänglich gemacht und ins Bewußtsein gerückt werden. Kunst wird zu einer therapeutischen Form der konzentrierten Selbsterfahrung, zum Ausstieg aus dem kleingehackten Alltag mit seinen zerfetzten Bildern.

Auf den schwarz-weißen Fotografien, die Walther und Freunde mit den Kunstobjekten hantierend zeigen, offenbart sich noch ein anderer Aspekt. In der nachträglichen Dokumentation gerinnt wieder in feste Form, was aus der Auflösung der festen Formen hervorging. Die Kunstakteure befinden sich allein in einer weiten Landschaft und werden in ihr zur Skulptur. Sie beziehen ihre Spannung aus ihren einsamen Positionen in den ruhigen Flächen der Wiesen- und Hügel und vor den großzügig geschwungenen Horizonten. Die Fotografien stilisieren das, was gerade nur in der Bewegung und Verlaufsform erfahrbar sein sollte, wieder zum Objekt. Die Natur erscheint als ein von Ablenkungen und Zufälligkeiten gereinigter Raum, idealer Hintergrund der elementaren Erfahrungen. Ein romantischer Unterton von der Suche nach dem ganzheitlichen Menschen, der mit allen Sinnen wahrnimmt und in Harmonie mit seiner Umgebung lebt, schleicht sich ein.

Auf seinen doppelseitigen Zeichnungen zu dem 1.Werksatz übersetzt Walther theoretische Überlegungen ins sinnliche Formen. Die Zeichnungen sind sowohl als Entwürfe zu der Gestalt der Objekte und dem Verlauf der Aktionen entstanden als auch als Erinnerungsprotokolle an die Abläufe. Koordinatensysteme über räumliche und zeitliche Entfernungen werden zu farbigen Bildgrenzen, Orientierungspunkte im Raum gehen in Sternbilder über, aus Texten entstehen Spuren, Wege, choreographische Zeichencodes. Auf die eine Seite des Blattes schrieb Walther geordnet in einer graphischen Struktur die Begriffe, aus deren Reflexion seine Arbeit hervorging, und auf der anderen Seite wuchs aus dem durchschimmernden graphischen Gerüst eine Landkarte der Wege der Akteure. Mit Fetten, Ölen und Kaffeesatz verstärkte Walther die Durchlässigkeit der Papiere und ihre haptische Qualität, die das einseitige Bild zu einem zweiseitigen Bildkörper werden lassen.

Katrin Bettina Müller

Franz Erhard Walther. Zeichnungen, Werkzeichnungen 1957 -1984. Kupferstichkabinett Dahlem, Bis zum 2.7., Katalog 28 Mark.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen