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Archiv-Artikel

FENSTER ZUM HOF Steh den Hilflosen bei

„Geh rüber und schau nach!“, sagten meine Internetfreunde

Puh, bin ich erleichtert! Jeden Tag hatte ich im Grunde darauf gewartet, dass die Polizei bei uns vor der Tür steht, um mich wegen unterlassener Hilfeleistung festzunehmen. Monatelang waren die Fenster vereist. Bei uns im Hof gegenüber. Die zwei Fenster ganz links. Neben dem mittleren Balkon ganz oben. Komplett zugefroren. „Ob da jemand erfroren in seiner Wohnung liegt?“, hatte ich bei Facebook gepostet. „Geh rüber und schau nach!“, sagten meine Internetfreunde.

Na danke, dachte ich. Ich hab als kleines Mädchen mal einem ganzen Wurf Katzenbabys das Leben gerettet. Die saßen unter meinem Kinderzimmerfenster im Hof in der vergitterten Luke vom Kellerfenster und miauten herzzerreißend. Meine Freundin Annegret und ich observierten, analysierten und objektivierten die Lage: Die Kätzchen waren in akuter Lebensgefahr. Wir Jungpioniere mussten den Hilflosen beistehen. Wir also im ganzen Haus gefragt, wem der Keller gehört, dann den Schlüssel erbettelt, über Kohlenhaufen und Gerümpel geklettert, das Fenster freigeschaufelt, aufgebrochen und dann die sich sträubenden Kätzchen befreit. Gefreut haben die sich gar nicht. Gekratzt haben die Biester. Wie sonst was. Ich bekam einen Asthmaanfall. Und vor allem bekamen wir Flöhe. Myriaden von Parasiten hatten sich im flauschigen Fell der Kätzchen eingenistet, und die sprangen alle auf Annegret und mich über. Von mir sollten sie im Laufe der nächsten Woche auf meinen Vater übersiedeln. Annegrets Flöhe gab ihre an ihren kleinen Bruder weiter, der sie an die Fische verfütterte.

Die Kätzchen saßen eine halbe Stunde nach unserer Rettungsaktion wieder in der vergitterten Luke. Die Katzenmutter hatte jedes einzelne ihrer Jungen per Nackengriff wieder zurückgeschleppt. Gestern hab ich Licht gesehen in dem vereisten Zimmer gegenüber und einen Mann, der seine Koffer auspackte.

LEA STREISAND