piwik no script img

FAZ-Mag: Verschwörung

(48) Dr. Harald Wessel saß vor dem Spiegel und sprach mit sich selbst. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur des Neuen Deutschland redete sein Gegenüber respektvoll mit „Lieber Heinrich von Grauberger“ an, das ihn ebenso freundlich mit „Mein lieber Doktor Wessel“ ansprach. Hier, vor dem Spiegel, fand Wessel den Respekt, den ihm die Welt verweigerte. Dabei war er doch so klug! Hatte voll den Durchblick! Es gab eine Weltverschwörung gegen die Ostdeutschen! „Wissen Sie“, wisperte Wessel, „die stecken alle unter einer Decke. Gewisse Kreise in den USA – ich sage nur: Westküste – haben Daniel Goldhagen groß gemacht, um uns Deutsche zu knechten. Mit der Moralkeule. Damit wir lebenslang vor den Juden auf den Knien liegen müssen! Sein Buch soll damals in der New York Times zweimal rezensiert worden sein.“ Und das alles nur, damit die Juden ihr exklusives Mahnmal bekommen. Und zwar von gutem deutschem Geld! Das rechtlich gesehen den Ostdeutschen zusteht! Die haben schließlich alle Reparationen bezahlt!“ Grauberger applaudierte. „Niemand hat so gelitten wie die Ostdeutschen. Und das hört nicht mehr auf.Bis endlich einer aufsteht und ruft: 'Ostdeutsche, wehrt euch! Gegen Zinsknechtschaft und Fremd- herrschaft!‘ “ Harald Wessel war so begeistert von seinem Gegenüber, dass er Haltung annahm. Lange stand er so, versunken in Gedanken an sich und sein geliebtes Deutschland.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen