piwik no script img

Experten fordern Aus für AKW Greifswald

■ Staats- und Parteiführung wußten spätestens seit 1986 vom maroden Zustand der vier Reaktorblöcke / Atomkritische Sicherheitsexperten halten auch Rekonstruktion für illusorisch / Schlampereien der Betriebsmannschaften aktenkundig / Hundertseitiges Gutachten vorgestellt

Berlin (taz) - Spätestens seit 1986 wußten die zuständigen Behörden in der DDR, bis hin zum Ministerrat, daß der Weiterbetrieb der vier Reaktorblöcke der Atomzentrale Greifswald nicht länger zu verantworten war. Außerdem war die Staats- und Parteiführung darüber informiert, daß Schlampereien der Betriebsmannschaften im „KKW Bruno Leuschner“ den Alltag bestimmten und daß die, auch nach der Umwälzung weiterbeschworene, besondere Zuverlässigkeit des Reaktorpersonals mit der Realität nicht viel gemein hatte. Das belegen zahlreiche Zitate aus bisher unveröffentlichten Gutachten des „Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz“ (SAAS), die in einer gestern veröffentlichten Sicherheitsstudie renommierter Atomkritiker aus beiden deutschen Staaten nachzulesen sind.

Gutachter - unter ihnen der im Atomkraftwerk Greifswald für Werkstoff-Fragen zuständige Werkstoff-Fachmann Norbert Meyer - kommen in der 100 Seiten umfassenden Zustandsbeschreibung zu dem Schluß, daß alle vier Reaktorblöcke umgehend stillgelegt werden müssen. Auch Rekonstruktionsmaßnahmen könnten die Anlage nach Auffassung der Gutachter nicht an die in der BRD üblichen Sicherheitsstandards heranführen. Sie würden darüberhinaus nach einer Abschätzung des Reaktorfachmanns Michael Sailer (Öko-Insitut, Darmstadt) 6 bis 10 Milliarden DM verschlingen.

Bereits 1985 war den Werkstoff-Fachleuten vor Ort klargeworden, daß die Neutronenversprödung der Reaktorstähle entscheidend weiter fortgeschritten war, als zuvor erwartet. Der Werkstoff-Verantwortliche Norbert Meyer wurde damals mit seinem Antrag an die Betriebsleitung, wenigstens den ältesten Meiler abzuschalten, kalt abserviert. Die „Sprödbruchsicherheit des Reaktordruckbehälters“ ist die „Forderung Nummer eins an die Zuverlässigekeit jedes Druckwasserreaktors“, sagte Meyer gestern in Berlin. Dennoch lief der Meiler zunächst weiter, ehe die Strahlenschäden mit einer sogenannten Ausheilungsglühung mit bis heute nicht überprüftem Erfolg bekämpft wurde. Das Ausmaß der Strahlenschädigung, die im Falle eines Störfalls den schlagartigen Bruch des Druckbehälters auslösen kann, ist bis heute nicht direkt gemessen, sondern immer nur aus Modellrechnungen abgeschätzt worden.

Seit 1986 schlugen sich die Erkenntnisse über den desolaten Zustand der Anlage auch in Gutachten des SAAS nieder. Zitat: „Die Ausrüstung der Kernkraftwerke mit Sicherheitssystemen und die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit der vorhandenen Systeme ist geringer als bei gleichalten Kernkraftwerken in kapitalistischen Ländern.„ In einem sogenannten Kontrollbericht aus dem Jahre 1988 wurde die Überwachungsbehörde deutlicher. Internationale Standards könnten auch „durch Rekonstruktion nicht erreicht werden“, heißt es da. Und: „Lösungen zur Beherrschung von großen Leckstörfällen und zur grundsätzlichen Ertüchtigung des Drucksystems sind nicht erkennbar. Damit bleibt vor allem die Rückhaltung von radioaktiven Stoffen, die aus dem Reaktor freigesetzt werden, wenn... ein schwerer Störfall eintritt, unter dem internationalen Niveau.„ Im Mai 1989 schrieben die SAAS-Kontrolleure: Der internationale Stand, wie ihn die nach 1980 in der Welt in Betrieb genommenen Kernkraftwerke repräsentieren, ist durch Rekonstruktion nicht zu erreichen.„

In diversen Beschlüssen beklagten wechselweise die Kontrollbehörden und der Ministerrat der DDR zwischen 1986 und 1989 die offensichtliche Unbekümmertheit, mit der die Greifswalder Atomkraftwerker ihrem Geschäft nachgingen. Honneckers Ministerriege klagte, es gebe „immer noch“ Verstöße gegen das „notwendige hohe Niveau von Ordnung, Sauberkeit und Disziplin“, die Strahlenkontrolleure beschwerten sich über „immer wieder auftretende Verstöße gegen Grundregeln der Qualitätsarbeit und der technologischen Disziplin“, außerdem würden die Bedingungen des sicheren Betriebs (Bds B) vom Personal regelmäßig „nicht ausreichend wahrgenommen“.

Das Sicherheitsgutachten, in dem zahlreiche weitere Mängel, insbesondere im Hinblick auf die Auslegung der Sicherheitssysteme, zusammengefaßt sind, geht zurück auf eine Initiative des zentralen Runden Tischs. Die dort vertretenen acht Übergangsminister hatten die Studie im Januar Auftrag gegeben, nachdem der Bonner Reaktorminister Töpfer und der damals zuständige Schwerindustrieminister Singhuber eine deutsch-deutsche Sicherheitskommission ausschließlich mit AKW-Befürwortern besetzt hatten. Pflugbeil, Ex-Minister des Neuen Forums, beklagte gestern bei Vorstellung des Gutachtens, daß die Greifswalder AKW -Leitung „nicht ein Blatt Papier“ freiwillig herausgerückte und die Experten sämtliche Unterlagen nur auf „verschlungenen Pfaden“ erreicht hätten.

Unterdessen wurde bekannt, daß der Hannoveraner Stromkonzern PreußenElektra der AKLW-Leitung in Greifswald ein Milliardenkredit zur Rekonstruktion angeboten hat. Bedingung: Künftig dürfe die Bedienungsmannschaft 640 Beschäftigte nicht überschreiten.

Gerd Rosenkranz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen