Wenn die Russen kommen...: Exodus en masse?
■ Ungewißheit herrscht in Westeuropa über die Ausreisewilligen. Die Reaktionen der Regierungen schwanken zwischen Panikmache und Vogel-Strauß-Politik. Eines scheint sicher: Die Zahl der Auswanderer wird langsam, aber stetig ansteigen.
Die Zahl der SowjetbürgerInnen, die im Laufe eines Monats in einem der skandinavischen Länder Asyl beantragen, kann man an einer Hand abzählen. Noch. Falls man den ständig nach oben korrigierten Zahlen der Massenmedien glaubt, wird aber spätestens nach dem 1. Januar Skandinavien von einer wahren Flüchtlingswelle überschwemmt werden. Vorläufiger, aber sicher noch nicht letzter Höhepunkt einer wahren Hysterie, die Ankündigung einer finnischen Boulevardzeitung vom Wochenende: „Nicht 50.000, sondern 5 oder 50 Millionen!“ Auf jeden finnischen Bürger also zehn sowjetische Flüchtlinge?
Die Behörden halten kräftig mit: 50.000 Flüchtlinge könne man sicherlich einigermaßen versorgen, meinte ein Sprecher der finnischen Innenbehörde in einer durchaus ernst gemeinten Stellungnahme zu diesen Zahlen, für die es irgendeine reale Grundlage nicht gibt. 50 Millionen Menschen wären natürlich die reinste Katastrophe. Ja, an Bereitschaftsplänen werde selbstverständlich gearbeitet. Ein Maßnahmenkatalog, um die 1.300 Kilometer lange finnische Ostgrenze zur Sowjetunion dicht zu bekommen, wird gegenwärtig im Helsinkier Innenministerium entworfen. Die 3.000 Grenzsoldaten sollen künftig ihre Standposten verlassen und mehr Streife laufen, um „bei der Ankunft großer Menschenmengen“ unerlaubtes Eindringen zu verhindern. Von finnischer Seite hieß es indes, die neuorganisierte Grenzkontrolle falle zufällig mit den Neuerungen im Nachbarland zusammen.
In Schweden und Norwegen ein ganz ähnliches Bild in der veröffentlichten Meinung: Zittern vor der Fluchtwelle, Notpläne der Regierung, schärfere Grenzkontrollen, keine Aufhebung des Visazwanges, Anpassung alter Bereitschaftspläne, die teilweise noch aus der Zeit des letzten Weltkrieges stammen. 30.000 Plätze stünden auf der Ostseeinsel Gotland bereit, gibt die schwedische Regierung gleich vorab bekannt. Und falls man alle Ressourcen des Reservistensystems der Armee ausnutze, ließen sich im ganzen Land vorläufig etwa 800.000 kurzfristig zur Not unterbringen. Zahlen werden da genannt, die offensichtlich mehr darauf angelegt sind zu beunruhigen als zu beruhigen.
Zwar sind auch ernst zu nehmende AnalytikerInnen davon überzeugt, daß es nach der Novellierung der Paßgesetze in der Sowjetunion zu einer Ausreisewelle womöglich größeren Umfangs kommen wird. Zahlen von 5 bis 20 Millionen Flüchtlingen nennt auch die sowjetische Seite. Nicht in einigen Tagen allerdings, sondern verteilt über die nächsten Jahre. Dies allein schon deshalb, weil die sowjetischen Behörden nur die Kapazität zum Druck von 2 Millionen Pässen pro Jahr haben sollen. Und vor allem: eine Fluchtbewegung, die nicht ausschließlich oder gar vorwiegend auf Skandinavien ausgerichtet ist. Daß sich die Verbreitung der Horrorzahlen bei der Boulevardpresse auszahlt, läßt sich mit der verkauften Auflage erklären. Warum aber die Regierungen und Behörden in den betroffenen Ländern so willig dabei mitmachen, ist nicht von vornherein ersichtlich.
Jahrzehntelang hatte man die Sowjetunion aufgefordert, doch endlich die Ausreisebestimmungen dem westlichen Status anzupassen. Wenn dies jetzt bevorsteht, brandet keinesfalls Beifall auf. Nein, die Bevölkerung wird ganz unmißverständlich darauf vorbereitet, daß die Grenze nun von westlicher Seite hochgezogen werden müsse. „Wir halten an der Visumpflicht fest!“ betont Finnlands Präsident Mauno Koivisto, obwohl die Sowjetunion eine gegenseitige Aufhebung anregt. Ähnliche Entschlossenheit in Norwegen und Schweden: Man hofft, allein aufgrund der beschränkten und künstlich einschränkbaren Arbeitskapazität der konsularischen Vertretungen den Besucher- und Ausreisestrom kanalisieren zu können.
Wie das funktioniert, läßt sich derzeit jeden Tag vor dem schwedischen Generalkonsulat in Leningrad beobachten: Die Schlangen seien oft mehr als 100 Meter lang, berichtete dieser Tage eine Journalistin, die vor Ort war. Für die Entscheidung über gestellte Visaanträge nähmen sich die Auslandsvertretungen in der Sowjetunion mehrere Monate Zeit. Mit diesen künstlich geschaffenen Engpässen werden es die schwedischen Auslandsvertretungen in der Sowjetunion schaffen, in diesem Jahr nicht mehr als 50.000 Visaanträge, davon 12.000 in Leningrad, entgegennehmen zu müssen — pro Arbeitstag in Leningrad trotz der langen Schlangen gerade 50. Von denen werden dann auch noch 30 Prozent abgelehnt. Den begehrten Stempel für eine Besuchsreise — nicht etwa die endgültige Ausreise — nach Schweden erhält nur, wer eine schriftliche Einladung vorweisen kann, in der sich Gastgeber verpflichten, finanziell für den Besuchszeitraum vollends aufzukommen.
Ganz ähnlich schotten sich derzeit die anderen skandinavischen Länder hinter ihren Visabestimmungen ab, wobei Finnland noch am großzügigsten ist und 200.000 SowjetbürgerInnen in diesem Jahr den Besuch gestatten will. Auch wenn keine Angaben gemacht werden, wie viele von diesen BesucherInnen es versuchen, ihren Besuchsaufenthalt in einen dauernden umzuwandeln — die Zahl ist offenbar äußerst gering. Und die Chancen einer positiven Entscheidung minimal. „Wirtschaftsflüchtlinge“, lautet die fast einhellige Begründung für die Ablehnung entsprechender Anträge, nicht einmal bei sowjetischen Juden werden normalerweise für eine Anerkennung ausreichende Fluchtgründe bejaht. Um so unverständlicher also das kräftige Mitmischen der Regierungen bei der vorbeugenden Flüchlingshysterie. Ist neben der eigenen Bevölkerung, die man auf weitere, die Einreisefreiheit beschränkende Maßnahmen vorbereiten will, etwa die eigentliche Zielrichtung der Kampagne gen Osten gerichtet: „Glaubt bloß nicht, daß ihr willkommen seid“? Reinhard Wolff, Stockholm
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