: Ewiggestrige spielen mit der Angst
Großdemonstration der Hardliner in Moskau/ Aufgelöster Volksdeputiertenkongreß tagte ■ Aus Moskau K.H. Donath
Nicht das Ereignis als solches verdient Aufmerksamkeit. Zum x-ten Male fand gestern eine Demonstration orthodoxer Jelzin-Gegner und nationalistischer Schreihälse im Moskauer Stadtzentrum statt. Parallel dazu traf sich in dem kleinen Städtchen Podolsk ein Teil der ehemaligen Abgeordneten des längst aufgelösten sowjetischen Volksdeputiertenkongresses. Sein Ziel ist es, längerfristig die untergegangene UdSSR wieder neu zu beleben. Dazu soll die Wahl eines neuen Kongreßpräsidiums beitragen. Den Präsidenten Kasachstans, Nasarbajew, der nicht zu den Kongreßmitgliedern gehört, möchte man damit beauftragen, die schon in den Ansätzen gescheiterte Institution eines interrepublikanischen Wirtschaftskomitees nun endgültig auf die Beine zu stellen.
Wie wenig Aussicht auf Erfolg diesem programmatischen Anliegen beschieden ist, bedarf keiner Kommentierung. Darum geht es den Veranstaltern auch nicht, die seit Wochen die Propagandatrommel rühren und sogar in Petersburg Freifahrtscheine zur Demonstration nach Moskau verteilen lassen. Als könnten zehn Millionen Hauptstädter, wenn es ihnen denn eine Herzensangelegenheit wäre, nicht genügend Leute auf die Beine bringen.
Die Vorzeigedame des Organisationskomitees der ansonsten stahlharten Männerriege, Saschi Umulatowa, sah es schon ganz richtig: „Es bedarf langer Anstrengungen, um ein großes Baby zu gebären“. An eine sofortige Übernahme der Macht denke man nicht. Mit gezielten Übertreibungen wie 200.000 erwarteten Teilnehmern und Angaben, zwei Drittel der degradierten Deputierten seien angereist, wird Angst geschürt, um die Moskauer Stadtverwaltung zu unüberlegten Handlungen zu provozieren. Das gab es am 23.Februar schon einmal. Zehntausend Polizisten standen damals einer kaum größeren Zahl Nimmermüder gegenüber. Aus einem kleinen Handgemenge wurde anschließend je nach Couleur „Polizeiterror“ oder „Umsturzversuch“.
Bürgermeister Popow fiel jetzt mehrfach auf die Strategie der Ewiggestrigen herein: Zuerst untersagte er sämtliche Demonstrationen, dann hob er das Verbot wieder auf. Schließlich ersuchte er das russische Parlament um Sondervollmachten, die hart an der Grenze zum „Ausnahmezustand“ rangierten. Als die Legislative ihm sein Anliegen ausschlug, bezichtigte er sie der Komplizenschaft mit den neuen „Putschisten“.
Natürlich liebäugelt kein geringer Teil der russischen Parlamentarier noch mit dem alten System, doch macht sie das nicht gleich zu Putschisten. So etwas sorgt für Schlagzeilen und verstellt den Blick auf die Realität. Trotz Preiserhöhungen und keiner spürbaren Besserung der Lebensverhältnisse formiert sich keine nennenswerte Opposition gegen Jelzin. Im Gegenteil, man beginnt zu verstehen und richtet sich ein. Wenn gestern abend die imposante Figur des schwarzen Oberst Viktor Alksnis, das Konterfei des Generals Makaschow und der schon fast vergessene Widersacher Gorbatschows, Jegor Ligatschow, auf dem Bildschirm zu Wort kamen, war es in erster Linie eine Gedächtnisrevue, eine Nostalgieveranstaltung, inszeniert von den elektronischen Medien. Gerade für dieses Genre sollte derlei Schnee von gestern sein.
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