Eugen Ruge über die DDR: „Wir waren keine Deutschen“
Ostdeutsche vermissen Ostdeutschland: Der Schriftsteller Eugen Ruge im Gespräch über Stalinismus, Verlust und heutige Befindlichkeiten im Osten.
taz am wochenende: Herr Ruge, 50 Tage zusammensitzen und dann nicht fähig sein, eine Regierung zu bilden, das hätte es in der DDR nicht gegeben, oder?
Eugen Ruge: Das hätte es nicht gegeben, natürlich nicht. Aber ich hoffe, Sie erwarten jetzt nicht einen Kommentar zur geplatzten Jamaika-Koalition.
Hätten Sie denn einen?
Also Willy Brandt hat ja immer gesagt, es soll zusammenwachsen, was zusammengehört. Ich würde sagen, was nicht zusammengehört, muss auch nicht zusammenwachsen.
Welchen Ruf hatten die Liberal-Demokraten in der DDR?
Die aus dem Westen wie Genscher waren schon vor dem Mauerfall bekannte Figuren. Die Liberaldemokraten der DDR hatten als Blockpartei praktisch keine Bedeutung. Wurde man getriezt, wie mein Abteilungsleiter am Institut für Physik, und hatte keine Lust auf die Partei (die SED), dann trat man eben der LDPD bei. Und konnte sagen: Wieso, ich bin doch in einer Blockpartei, das ist doch damit erledigt. Ich selbst habe übrigens auf die beim Einstellungsgespräch gestellte Frage, ob ich mir vorstellen kann, in die Partei eintreten zu können, geantwortet, dass ich leider mit einigen Statuten der SED nicht einverstanden sei. Eingestellt wurde ich trotzdem.
Herr Ruge, Ihr Vater verbrachte 15 Jahre im Gulag und Verbannung in der Sowjetunion, bevor er 1956 „rehabilitiert“ und in die DDR ausreisen durfte, wie kam es dazu?
Mein Vater war insgesamt 25 Jahre in Russland, davon 15 Jahre in Arbeitslagern und Verbannung. Er ging freiwillig als junger Kommunist 1933 in die Sowjetunion. Er wurde dann 1941 nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion deportiert, zunächst nach Kasachstan. Er hat vier Jahre als Arbeitsarmist in gulagähnlichen Zuständen verbracht. Und dann noch elf zermürbende Jahre in der Verbannung. Der Krieg war aus, die DDR gegründet, und die ehemaligen Arbeitsarmisten hingen in der Verbannung fest.
Warum wurde er interniert?
Das gab es auch in Frankreich oder England, dass Deutsche, auch Antifaschisten, bei Kriegsbeginn in Lager kamen. Aber nicht unter so schrecklichen Bedingungen wie in der Sowjetunion. Während des Krieges haben in der Sowjetunion viele gehungert, nicht nur die Arbeitsarmisten, aber die besonders. Sich in Sibirien in einem Holzfällercamp wiederzufinden war sehr, sehr hart.
Ihr Vater erzählt davon in „Gelobtes Land. Meine Jahre in der Sowjetunion“. Zielten diese Lager auf den Tod der Insassen durch Arbeit?
Sklavenähnliche Zwangsarbeit, so würde ich es formulieren. Es war ein brutaler Umgang mit Ressourcen, Leben und menschlicher Arbeitskraft. Aber Ziel war nicht, die Leute wie in den deutschen Vernichtungslagern umzubringen. Eine dramatisch hohe Zahl von Menschen ist in den sowjetischen Arbeitslagern in den Kriegsjahren zugrunde gegangen. Es waren unglaublich schwierige Bedingungen, es gab kaum zu essen, 500, 600 Gramm Brot bei Normerfüllung, von da an abwärts.
Ihr Vater, Wolfgang Ruge, starb im Dezember 2006. Er wurde nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion ein anerkannter Historiker der DDR. Trotz der traumatischen Erfahrungen mit dem Stalinismus ging er 1956 nicht in den Westen, warum nicht?
1956, zwei Jahre nach Stalins Tod und Chruschtschows berühmter Rede zur Entstalinisierung, konnte man zu der Überzeugung gelangen, dass nun die Zeit des demokratischen Sozialismus anbricht. Darauf hoffte mein Vater. Er war und blieb ja Kommunist. Im Gegensatz zu vielen anderen hielt er den Stalinismus immer schon für verbrecherisch. Von der Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus hat er sich aber erst nach und nach verabschiedet.
geboren 1954 in Soswa (Oblast Swerdlowsk, Sowjetunion). Gewann 2011 mit dem Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den Deutschen Buchpreis. Seine Werke erscheinen bei Rowohlt, ebenso das Buch des Vaters Wolfgang Ruge „Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion“, Schlüsseldokument des Stalinismus. Ruge studierte in der DDR Mathematik, arbeitete als Physiker. 1988 ging er in den Westen, lebt heute in Berlin.
Auf einer Veranstaltung zum 100. Geburtstags Ihres Vaters in der Berlin-Brandenburgischen Akademie haben Sie jetzt von der sozialistischen List gesprochen, die es brauchte, um im System der DDR als Historiker abweichende Meinungen in den Diskurs einzuschmuggeln. Was meinten Sie damit?
Ich glaube, ich sprach von „parteitaktischer Schlauheit“. Dazu eine Anekdote, die ich für glaubwürdig halte: Ernst Engelbert, der zeitweise der Chef meines Vaters war, schrieb Kurt Hager, dem Chefideologen der SED, eine Passage in eine seiner Grundsatzreden. Er beriet sich mit meinem Vater darüber. Mein Vater sagte zu Engelbert: Schreib doch einfach rein, dass Biografien bürgerlicher Personen für die DDR-Wissenschaft von Bedeutung sind. Engelbert, der selbst vorhatte, eine große Bismarck-Biografie zu schreiben, tat das. Und mein Vater hielt dann seinem Verlag die Hager-Rede vor die Nase, um sein Interesse für bürgerliche Politiker zu rechtfertigen. Er schrieb dann über Stresemann, Erzberger oder Hindenburg. Der Kampf um Themen und ideologische Grenzen wurde in der DDR nicht offen ausgetragen, sondern auf indirekte Weise. Das meint „parteitaktische Schlauheit“.
Ihr Vater war dennoch kein Oppositioneller, wie würden Sie sein Verhältnis zum Staatssozialismus der DDR charakterisieren?
Ein unfreiwillig sich Anpassender. Er hat innerhalb des Rahmens versucht, Terrain zu erobern, aber er hat keine Revolution angezettelt. Sein Maß an erlittener Repression war nach der Sowjetunion voll. Das muss man auch verstehen. Er hatte keine Lust, das wiedergewonnene Leben aufzugeben.
Aber hätte er nicht freier im Westen forschen können?
Ob ein Westinstitut den Absolventen der Uni Swerdlowsk genommen hätte? Aber vor allem blieb er antikapitalistisch eingestellt. Die große kommunistische Erzählung lebte für ihn weiter. Und dann gab es auch ganz praktische Gründe: Wie hätte er in den Westen kommen sollen? Was ist mit der Familie? Was hätte man mit der zurückgelassenen Großmutter in Sibirien machen sollen? Meine russische Mutter hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, sie zu besuchen. Dass er diese Überlegungen in seinem Buch beschreibt, bedeutet aber, dass der Gedanke da war.
Ihre Mutter Taja, eine Sowjetbürgerin, hatte gegen die deutsche Nazi-Armee gekämpft. Sie selbst wurden in der Verbannung 1954 im russischen Soswa geboren. Wie war das für Sie als Kind ab 1956 in der DDR?
Während die Fotos aus Russland ein vergleichsweise wildes, struppiges Kind zeigen, erscheine ich in Deutschland sehr ordentlich gekämmt und angezogen. So erinnere ich auch die Atmosphäre. Ich glaube, ich habe meine russische Oma vermisst. Ansonsten war die Ankunft hier problemlos. Ich war stolz auf meine teils russische Herkunft und hab im Defa-Kindergarten in Babelsberg sogar damit angegeben.
Ihre Großmutter blieb in Soswa. War es möglich, dort weiter hinzureisen?
Ich fuhr insgesamt dreimal zu Besuch mit meiner Mutter dorthin. Mein Vater durfte als DDR-Bürger nicht in die Sperrzone um Swerdlowsk, heute Jekaterinburg. Hinter dem Ural. Da konnte man nicht so einfach hinfahren. Er wollte aber auch nicht. Meine Mutter war Russin, und ich, als Kind, durfte auch mitfahren.
Aufgrund Ihrer Herkunft hatten Sie also keine negativen Erlebnisse in der Kindheit in der DDR?
Nee, im Gegensatz zu Natascha Wodin, die in ihrem Buch eine bedrohliche Feindseligkeit gegen das russische Kind im Westen beschreibt, gab es diese Erfahrung bei mir im Osten nicht. Natürlich war die Freundschaft zur Sowjetunion in der DDR auch Staatsdoktrin, da war es schwierig, etwas gegen Russen zu sagen. Es gab latente Russenfeindlichkeit in der DDR, aber ich erinnere mich auch an echte Russophilie bei ehemaligen Wehrmachtssoldaten.
War in der privaten Umgebung die Geschichte bekannt, dass Ihr Vater den Stalinismus nur knapp überlebte?
Mein Vater hat zu Hause offen mit mir, Freunden oder Bekannten darüber geredet. Auch mit Künstlern und Intellektuellen. Einmal besuchte uns Christa Wolf und ließ sich von meinem Vater und seiner Lagerzeit erzählen.
Wann war das?
Das muss in den 70er Jahren gewesen sein. Mein Vater informierte in dieser Weise durchaus. Die DDR war ein kleines Land und der Kreis der Künstler und Intellektuellen nicht so groß. Mein Vater hat über seine Lagererlebnisse sehr distanziert berichtet, in fast anekdotischer Form. Er ließ das nicht an sich heran. In seinem Buch ist das später anders: Da findet er eine Sprache, die Leere, Not und Verzweiflung beschreibt.
An einer Stelle Ihres preisgekrönten Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ – einer fiktiven Erzählung, die vor dem Hintergrund Ihrer Familiengeschichte von der DDR handelt – sagt der Vater zum Sohn: „Aber wenn deine Begeisterung für diese Beatmusik dazu führt, dass du Gammler werden willst, dann muss ich dir sagen, dass deine Lehrer recht haben, wenn sie so was verbieten.“ Sie selbst haben dann 1988 die DDR Richtung Westen verlassen, warum?
Witzig ist, dass es diesen Generationenkonflikt und den Begriff des Gammlers so auch im Westen gab. Etwas früher, gar keine Frage, im Westen war alles etwas früher, aber die Konflikte gab’s dort auch. In der Spätphase der DDR hörte man jede Menge Beatmusik, auch Westbeatmusik. Ich habe selbst in einer Band gespielt, und wir mussten uns formal immer an das Verhältnis 60 zu 40 halten und lange Listen ausfüllen, wo die gespielten Lieder drinstehen mussten, wegen der Gema – bei uns hieß das: Awa.
Was meint 60 zu 40?
Na, 60 Prozent DDR-Titel zu 40 Prozent Westtitel. Aber wir haben natürlich zu 100 Prozent Westtitel gespielt. Überall und immer wurde nur Westmusik gespielt, auch wenn auf den Zetteln etwas anderes stand.
Wie hieß Ihre Band?
Oh, peinlich. Es durfte ja kein Name sein, der typisch westlich klang, Anglizismen waren ganz schlecht angesehen. Deswegen suchte man so Worte, die dazwischen lagen wie: Testband, Computerband. Also die eine hieß Test-, die andere später Computerband. Beatmusik gab es in der DDR genug, deswegen bin ich also nicht abgehauen.
Sie wollten Schriftsteller werden, in der DDR sahen Sie diese Möglichkeiten nicht?
Nein. Ich fand die DDR als Gegenstand für Literatur nicht oder nicht mehr interessant. Alles war klein und eng. Ich sah auch keine Zukunft, ich sah, dass die Zeit für dieses Land abläuft. Nicht so schnell, wie es dann geschah. Aber ich hatte keine Lust, darauf zu warten.
Also schlicht Überdruss?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Ich könnte da jetzt auch ganz schnell eine Opfergeschichte daraus machen. Bräuchte Ihnen bloß erzählen, dass ich meinen Job hinschmiss, als ich ein Gutachten für den Bau eines Kernkraftwerks bei Schleiz anfertigen sollte. Oder über einen aufrührerischen Auftritt im evangelischen Predigerseminar in Brandenburg. Und überhaupt hatte ich immer die große Klappe. Aber ich fühlte mich immer geschützt, nicht so sehr durch vermeintliche Privilegien meines Vaters, sondern dadurch, dass er mir zum Beispiel sehr früh mal gesagt hat: Wenn die Stasi irgendwas von dir will, schick sie zu mir! Ich werde denen von den Erfahrungen mit befreundeten Geheimdiensten erzählen!
Die Mauer fiel ein Jahr nach Ihrer Übersiedlung in den Westen 1989, was dachten Sie da?
Ich war sehr ungerecht: Ich dachte, was für ein Mist! Gerade war ich hier noch ein seltener Fall, und jetzt bin ich einer von 17 Millionen. Dafür schäme ich mich heute. Ich habe mich dann auch lange geweigert, auf das Territorium der früheren DDR zurückzukehren, habe erst nach fünf Jahren wieder die Kurve gekriegt. Ich habe eine Weile in Krefeld gewohnt und bald meine erste Aufführung als Theaterautor in Bonn erlebt, „Vom Umtausch ausgeschlossen“. Seitdem habe ich mich so recht und schlecht vom Theater ernährt und ein bisschen vom Übersetzen.
Vor ein paar Tagen haben wir uns im Museum Barberini in Potsdam die Ausstellung „Hinter der Maske – Künstler in der DDR“ angeschaut. Sie sagten, Sie hatten dort um die Ecke Tanzunterricht gehabt?
Ich bin ja in Potsdam aufgewachsen. Wir haben in Babelsberg gewohnt, dort bin ich zur Schule gegangen, später in Kleinmachnow. Meinen Tanzunterricht hatte ich hier gegenüber im Hans-Marchwitza-Haus, dem Alten Rathaus, wo der goldene Atlas mit der Erdkugel auf den Schultern auf der Dachkuppel steht.
Welche Tänze hat man denn gelernt, wenn man keine Westeinflüsse haben durfte?
Ach, die Standardtänze sollte man schon alle lernen. Halligalli gab es da zum Beispiel, was garantiert aus dem Westen kam.
Bei der Ausstellung im Barberini geht es um die Selbstinszenierung des Künstlerindividuums in der DDR. Sie versammelt zeithistorisch aber auch künstlerisch interessante Positionen; Tübke, Sitte oder Mattheuer. Malerinnen gab es wenige. Wie hat die Ausstellung auf Sie gewirkt?
Die Arbeiten waren sehr verschieden. Die Bilder, die uns beiden auffielen und die wir als annehmbar betrachteten, stammten zumeist doch von Malern, die in der DDR relativ bekannt waren. Das trifft vielleicht weniger auf Penck zu als auf Tübke oder Sitte. Auch wenn nicht jedes Bild gleich stark ist, gibt es da sehr schöne Arbeiten. Auch Bunge hat uns beiden gefallen, dessen Gemälde von 1949, wie wir lasen, in den sogenannten Formalismustreit geriet. Das begreift man heute kaum. Wir konnten nichts „ideologisch Brisantes“ feststellen. Insgesamt gab es wenig Abstraktes. Nun bin ich aber auch kein großer Freund abstrakter Kunst …
Neben der gelenkten Parteikunst gab es auch freiere Positionen. Oft kommt es aber auf die Entschlüsselung der Symbolik an. KPD-Chef Thälmann in dem rotfarbenen Sitte-Gemälde „Die Rote Fahne – Kampf, Leid und Sieg“ muss man erst einmal erkennen …
Dieses große Sitte-Gemälde ist malerisch interessant. Auch das Thema, die Gewalt in der Geschichte des letzten Jahrhunderts, dagegen kann man nichts sagen. Doch dann schimmert da irgendwo das freundliche Gesicht von Ernst Thälmann durch, sozusagen als Erinnerung und Vorschein. Und das verdirbt das Bild. Aber malen konnte der, keine Frage.
Lassen Sie uns einen Sprung machen: 28 Jahre nach Mauerfall und Übergang zur Demokratie scheinen viele Ostdeutsche extrem unzufrieden. Im Bundesland Sachsen ist die rechtsextreme AfD die stärkste Partei. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Was soll man dazu sagen … (er ächzt und stöhnt). Sicher gibt es dafür auch ökonomische Gründe. Wenn auch nicht in diesem Sinne, dass es den Leuten jetzt materiell schlecht geht. Aber wenn ich mich in meiner Bekanntschaft umschaue, die Brüche sind enorm. Gerade in den Biografien von Leuten meines Alters. Viele Leute wurden richtiggehend rausgeschleudert, oft aus Leitungspositionen. Viele haben sich irgendwie berappelt. Verdienen heute ihr Geld in Berufen, die sie nicht gelernt hatten, die sie vielleicht nicht mögen. Und was man im Westen oft gar nicht verstehen will, was Akkumulation von Erbe bedeutet. Die Ostdeutschen haben nichts geerbt. Die gehen auf relativ dünnem Eis. Das Unbehagen vor weiteren Veränderungen ist im Osten von daher anders ausgeprägt als im Westen.
Verunsicherung sowie Kritik am etablierten Parteiensystem würden Sie sozialpsychologisch aus der Verlusterfahrung deuten?
Es gibt sicher viele Ursachen. Aber die DDR ist in gewissem Sinne schon kolonialisiert worden. Auch wenn ich die DDR nicht verklären oder verteidigen will. Aber was die Treuhand in der Zeit des Umbruchs machte, sollten wir alle noch wissen. Sie hat das Eigentum der DDR verhökert für 'n Appel und ’n Ei. Betriebe wurden massenweise geschlossen.
Für viele schmerzhaft. Dennoch: Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung wollte den Anschluss an die Bundesrepublik, und die DDR-Betriebe waren in der gewünschten neuen Ordnung nicht konkurrenzfähig, weil technisch veraltet. Ostdeutschland hat doch heute in der Breite ein Wohlstandsniveau erreicht wie kein zweiter postsowjetischer Staat?
Die Vereinigung war sicher gewünscht, aber ein Großteil der Leute wusste nicht, was sie bedeuten würde. Die Macher der Geschichte, die großen Unternehmen und die führenden Politiker, die wussten das schon. Man muss begreifen, dass daraus ein Großteil der heutigen Verunsicherung im Osten resultiert. Es war ja nicht nur ein ökonomischer Umbruch. Für Ostbürger hat sich alles verändert. Gewiss auch vieles zum Positiven! Aber die ganze Ikonografie ist plötzlich eine andere. Die Stadtbilder, alles sieht anders aus, sogar die Formulare. Wie man ein Bankkonto eröffnet, wie man eine Steuererklärung macht – alles ist anders. Die Brötchen, die Lebensmittel, die Teller, die Stühle, auf denen man sitzt. Das kann man sich als Westdeutscher wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Oder das Geld: Die Ostdeutschen haben in kürzester Zeit zwei Währungsreformen durchgemacht. Kaum hatten sie endlich die D-Mark, nach der sie sich gesehnt hatten, schon mussten sie sich auf den Euro umstellen. Man kann das belächeln, aber die D-Mark war für die DDR-Bürger Symbol für Wohlstand und Stabilität. Und dann kommt der Euro, der in seinen siebzehn Jahren gefühlt die Hälfte seines Werts verloren hat. Heute ist alles doppelt so teuer wie bei der Euro-Einführung, Bier, Autos …
Die Einkommen sind aber auch gestiegen?
Möglicherweise. Aber dies ist der Ausgangspunkt, wenn man die Verschiebung der Stimmung betrachtet. Die Grenzen öffnen sich, der Umgang mit dem Begriff Deutsch ändert sich. Wir alle, auch diejenigen, die sich nicht mit der DDR identifiziert haben, trugen den Begriff DDR-Bürger wie ein Brandzeichen mit uns herum. Wir waren keine Deutschen, wir waren DDR-Bürger. Viele waren froh, dieses seltsame Dreibuchstabenkürzel als Identitätsbezeichnung los zu sein. Kaum sind sie es los, erfahren sie, dass deutsch zu sein etwas Schwieriges ist. Etwas was man schnell wieder vergessen soll. Das man jetzt in einer offeneren, anderen Identität aufgehen soll. Sie reagieren anders als Westdeutsche. Und es ist eine Art koloniale Überheblichkeit, wenn die Westdeutschen die Erfahrungen und Perspektiven der Ostdeutschen nicht ernst nehmen oder als primitiv betrachten.
Aber warum orientieren sich viele in der Kritik an Nationalismus oder völkischen Konzepten?
Die Linke, gerade die Westlinke, sollte lernen, die Perspektive und Erfahrungen anderer Menschen zuzulassen. Klar ist: Diejenigen, die faschistische Ideologien predigen, muss man rechtlich verfolgen. Die gehören in den Knast. Aber die AfD oder ihre Wähler sind doch nicht alle Nazis. Oder gar der ganze Osten. Und nicht jeder, der das Wort Nation in den Mund nimmt, ist ein Rechtsradikaler.
In Westdeutschland kam nach 1968 die Idee auf, von unten die Welt zu ändern. Anders leben, produzieren, konsumieren – die Dinge selbst in die Hand nehmen. Der Gedanke scheint im Osten nicht angekommen, da wählt auch kaum jemand die Grünen-Partei?
Das ist für mich eine typisch linksliberale Idee. Es hat keinen Sinn, an die Großunternehmen zu appellieren, etwas menschlicher und umweltfreundlicher zu sein. Und es hat auch keinen Sinn, dem Landbewohner zu sagen, fahr mehr Bus oder Bahn, wenn die Bahn ihre kleinen Strecken schließt oder der Bus nur alle Stunde fährt und sonntags gar nicht. Und das Ressourcenproblem lösen wir auch nicht, indem wir Sparlampen benutzen und Elektroautos fahren. Der Lebensstil, den wir pflegen, ist für unseren Planeten nicht geeignet. Wobei dieser Lebensstil noch nicht einmal glücklich macht. Wir verheizen den Planeten, wir trocknen den afrikanischen Kontinent aus, berauben die Menschen ihrer Heimat – wofür? Ich kenne nur noch Leute, die keine Zeit haben. Ist das Glück?
Was bedeutete Antifaschismus in der DDR?
Der Antifaschismus in der DDR kam wie alles als Indoktrination. Aber die Jugend wurde antifaschistisch erzogen. Die Lehrer haben aufgeklärt, wie verbrecherisch der Faschismus war. Natürlich gab es den marxistischen Ansatz. Er ging davon aus, dass der Nationalsozialismus aus den Wurzeln der kapitalistischen Entwicklung hervorgegangen ist. Man muss zumindest anerkennen, dass diese Möglichkeit der Interpretation nicht hirnrissig ist und ein Konzept der Erklärung darstellt.
Die Massen hat die NSDAP aber mit ihrer antikapitalistischen und antisemitischen Rhetorik mobilisiert.
Die Frage bleibt aber, ob man die Wurzel des Bösen in der Natur des Menschen sieht. Oder man sagt, es kommt aus den Verhältnissen. Der Marxismus sagt genau das. Der Mensch ist weder gut noch schlecht. Man muss die Verhältnisse ändern und dadurch den Menschen.
Wie hat Ihr Vater den Untergang der DDR erlebt: als Befreiung oder Niederlage?
1989 haben wir uns fürchterlich gestritten. Ich vertrat damals, in etwa wie Sie heute, dass es auf Kontrolle, Demokratie und Mitbestimmung im Kapitalismus ankäme. Über „den“ Kapitalismus zu reden mache wenig Sinn. Mein Vater war entgegengesetzter Meinung. Er war enttäuscht, dass der Sozialismus zusammenbrach, auch wenn es ein schlechter Sozialismus war. Auch heute weine ich dem real existierenden Sozialismus keine Träne nach. Was mir auch viele übel nehmen. Für mich war die DDR nicht erhaltenswert. Durch praktische Kenntnis des Kapitalismus sehe ich allerdings vieles nun anders.
Welche List wenden Sie an, wenn Sie Westlern erklären, dass die Niederlage der DDR auch eine schmerzliche Seite haben kann – Sie aber nicht als Nostalgiker dastehen wollen?
Ich habe darüber einen Roman geschrieben. Was es heißt, Familie, Freunde, ja, Heimat zu verlassen. Im Westen verschwindet alles laufend, aber das Bruttosozialprodukt nimmt zu. In der DDR war das anders. Da stand alles so ein bisschen still, bewegte sich langsamer. Mein Babelsberg gab’s bis zur Wende, dann verschwand es. Was dieser Verlust bedeutet, obwohl man das Land nicht mochte, das zu erklären, deswegen habe ich „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ geschrieben. Ich hänge nicht an diesem Land, aber es ist verdammt schwer, es loszuwerden.
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