: Es spielen die, die spielen müssen
Anders als in Europas Topvereinen fehlen den Nationaltrainern die personellen Alternativen: Hat uns die Champions League zu sehr verwöhnt?
Die abgelaufene Champions-League-Saison hat sehr hohe Erwartungen an die Auftritte der Europäer geweckt. Vielleicht waren sie einfach zu hoch. Topklubs wie Barcelona oder der FC Arsenal spielen schon seit vier, fünf Jahren auf einem Niveau, das das der Nationalmannschaften deutlich übertrifft. Das wird jetzt bei der WM bestätigt und sollte eigentlich nicht verwundern.
Ein Vereinstrainer wie Arsene Wenger, nur als Beispiel, kann sich über mehrere Jahre hinweg jene technischen dribbelstarken und schnellen Spieler aussuchen, die in sein „One Touch“-System passen und dann monatelang immer wieder Doppelpässe und Laufwege einüben. Die fließenden Kombinationen der Gunners sind nicht nur der Genialität der Spieler geschuldet, sondern tagtäglicher monotoner Arbeit auf dem Trainingsplatz.
Wenn man die Brasilianer mit ihrem schier unerschöpflichen Reservoir an Spielern ausnimmt, haben die Länder also alle das gleiche qualitative Problem. Sie müssen ihr Personal aus einer sehr überschaubaren, im Zuge der Globalisierung des Fußballs immer kleiner werdenden Menge von Spielern auswählen. Um die 50 Prozent aller Plätze in den großen Ligen werden von Ausländern besetzt. Bei Wengers Arsenal spielten zeitweise gar keine Engländer. Wie viele deutsche Stürmer hatte Jürgen Klinsmann zur Auswahl? Sechs, sieben vielleicht. Wie würde die deutsche Mannschaft ohne Podolski und Klose dastehen? Man mag gar nicht daran denken. In England spielen so viele ausländische Torhüter in der Premier League, dass Sven-Göran Eriksson Scott Carson, den dritten Torwart von Liverpool, mit nach Deutschland genommen hat. Bei der WM spielen also nicht nur die besten. Es spielen auch die, die mangels Alternativen spielen müssen, dass den Nationaltrainern vergleichsweise wenig Zeit für Taktik- und Fitness-Training bleibt. Nicht jeder hat wie Klinsmann seinen Spielern Hausaufgaben mitgegeben; die medizinische Betreuung in den Topvereinen ist häufig besser und professioneller als die der Länder. Das heißt nicht, dass von den Europäern kein guter Fußball zu erwarten ist. Frankreich, Portugal, Spanien, England, Deutschland und Italien verfügen über genügend Potenzial, druckvollen, modernen Angriffsfußball zu spielen. Nicht hilfreich dafür haben sich das heiße Wetter und der stumpfe Rasen in den Stadien erwiesen; dazu gesellt sich auch die Angst vorm Ausscheiden in der Schlussphase des Turniers. Die Spiele werden insgesamt defensiver und enger, das gleiche Phänomen kann man jedes Jahr gegen Ende der Champions League beobachten.
Die Matches sind deswegen nicht schlechter, nur weniger spektakulär. Und die vielen kleinen, interessanten Dinge, die man im Stadion sehen kann, gehen in der hartnäckigen Totale der Fernsehübertragungen unter. Insgesamt ist das Niveau der WM gut. Wir sind von der Champions League nur zu sehr verwöhnt. Das ist das eigentliche Problem. RAPHAEL HONIGSTEIN