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Es muß nicht immer Amerika sein

■ Der neorealistische Film Lamerica erzählt von Flucht in Europa

Dieser Film erzählt die Geschichte vor den bisherigen Bildern. Jeder kennt sie, die Fotos jener Frachter, die im Sommer 1991 albanische Flüchtlinge nach Brindisi karrten. Was man sonst allenfalls in der Südsee für möglich hielt, spielte sich im Vorhof Europas ab – überall klebten Menschen, auf den Mästen, in der Takelage, überm Anker, weil sie um jeden Preis fort wollten. Und es waren eben jene Aufnahmen, die zynisch zum Anlaß für die unsägliche „Das Boot ist voll“-Diskussion genommen wurden, deren Folgen bekannt sein dürften.

Mit eben jenen Bildern endet Gianni Amelios Film Lamerica, über die einzelnen Gesichter der Boat People streifend, in diese vorsichtig eindringend. Ellenlang blicken die Flüchtlinge in den Zuschauerraum, und kein Soundtrack, kein Geräusch außer dem des rauschenden Adriatischen Meeres hilft bei der Flucht, diesmal auch der Flucht des Zuschauers vor dem Blick der Flüchtigen. Zuvor erzählt Lamerica die Geschichte zweier Passagiere. Der eine ist der Albaner Spiro (Carmelo Di Mazzarelli), der seit dem Zweiten Weltkrieg aus politischen Gründen im Arbeitslager malochte, der andere Gino (Enrico Lo Verso), ein junger mailändischer Schnösel, der in den Auflösungswirren des albanischen Staats auf die andere Seite gerät. Mit seinem Chef war Gino nach dem Tod Enver Hodschas dem Strom der Flüchtlinge entgegengereist – gute Geschäfte mit Schuhen wollten die beiden Kriegsgewinnler machen. „Ihr Albaner seid doch alle blöd“, sagt der Chef via Dolmetscher. Fassungslos starrt er auf die unzähligen Bunker, bis zu 240 davon ließ das Regime in den 70er Jahren täglich errichten, ohne aber genug Wohnfläche zu schaffen.

Aus dem Arbeitslager suchen sie sich einen presidente – als Strohmann für die Schuhfirma aus. Die Wahl fällt auf Spiro, weil er Albaner ist, keine Familie hat und leicht zu kontrollieren scheint. Doch all dies war eine Täuschung. So ist Lamerica vor allem ein Vexierspiel mit Identitäten und Zuschreibungen. Sobald sich ihm die Gelegenheit bietet, büchst der presidente aus, auf der Suche nach der buchstäblich verlorenen Zeit, nach seiner Familie in Italien. Gino bleibt mit seinem Kolonialistenblick in der Fremde und verliert bei der Suche nach dem zähen Alten nach und nach die Insignien des Geschäftsmannes. Wie alle anderen drängt es das ungleich-gleiche Paar nach Italien, wo die Menschen nur an Autounfällen sterben und man in Game-Shows 285 Millionen Lire gewinnt – es ist ein televisionäres Italien, das hier zum Fokus der Sehnsucht wird. Lamerica erzählt auch von einem Italien, das via Bildermaschine ähnlich wie die USA mythologisch aufgeladen wird. Die Freiheitsstatue steht für die Flüchtigen in Brindisi, Ellis Island in der Adria. Volker Marquardt

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