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Archiv-Artikel

Es fehlt in erster Linie Zeit

betr.: „Schüler überspringen Gedenken“, „Schule ohne Erinnerung. Mehr Zeit, nicht nur für Geschichte“, taz vom 8. 1. 09

Das Fazit ist genau richtig: Es fehlt in erster Linie Zeit zum Lernen in der Schule. Wer hat von uns LehrerInnen unter dem Zeitdruck von G8 noch Lust und Atem, auch noch den sogenannten Unterricht am anderen Ort vorzubereiten, durchzuführen, wer hat noch Zeit, Ausflüge dann auch qualifiziert nachzubereiten? Denn nicht nur auf die SchülerInnen ist in den letzten Jahren immer mehr Druck aufgebaut worden.

Da sind zum einen überfüllte Klassen: Meine 9. und 10. Klassen, die für die Gedenkstätten in Frage kamen, waren in den letzten Jahren regelmäßig mit über 30 Schülerinnen überfüllter als unser völlig überfrachteter Lehrplan. Wir GeschichtslehrerInnen müssen übrigens neben Geschi auch Sozialkunde unterrichten – was viele eher weniger tun dürften, kommen sie doch schon mit dem Geschichtslehrplan nicht durch. Wer darüber im Kollegium offen spricht, darf sich bei der Dienstlichen Beurteilung durch die Schulleitung nicht wundern, wenn ihm/ihr mangelnde Planung vorgeworfen wird. Außerdem: Weil für das Fach Ethik die Stunden für Geschi/Sozi gekürzt wurden, wird dies Dilemma noch schlimmer.

Dass Zöllners Sprecher Jens Stiller ausgerechnet angebliches Desinteresse türkischer SchülerInnen als Ursache für abnehmende Ausflugstätigkeiten zu NS-Gedenkstätten angeben mag, klingt nur noch peinlich. Natürlich gehe ich nicht ohne Vorsicht in eine Gedenkstätte zum JüdInnenmord mit pubertierenden MigrantInnen, die man bei der Überfüllung meiner Klassen nicht wirklich angemessen spezifisch vorbereiten und begleiten kann. Das hat aber auch gar nichts damit zu tun, dass sich diese Jugendlichen nicht für die primitive Gewalt der Nazis interessierten. Und ob sie sich dafür interessieren! Alle Jugendlichen interessieren sich nach meiner Erfahrung für Nazi-Gewalt und -Verbrechen.

Mir ist in den letzten Jahren eher aufgefallen, dass immer mehr evaluiert wurde: Auf Deutsch: Dass wir LehrerInnen zunehmend mit zum Teil unsinnigen Befragungen und peinlichen Schulinspektionen genervt wurden, und das, nachdem unsere Unterrichtsverpflichtung in den letzten Jahren massiv erhöht worden ist (natürlich ohne Lohnerhöhung). Es wurde gemessen und gewogen, aber: Vom Wiegen wird die Sau nicht fetter.

Wir brauchen aber nicht einfach nur mehr Geld in der Bildung, sondern mehr und ausdifferenziertes Personal in unseren Schulen. Und wir brauchen Zeit, um mit SchülerInnen gemeinsam das Lernen anzugehen, innerhalb und außerhalb der Schule. Daher: Weg mit G8 – und sicherlich auch her mit einer echten Reform des gesamten Bildungssystems, in der Druck nicht mehr die vordergründige Rolle spielt, sondern die Entfaltung der Persönlichkeit, der Gesellschafts- und Berufsfähigkeit in einem demokratischen Staat, der schlaue Leute braucht. ECKART MÜLLER, Geschichtslehrer im Sabbatjahr

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