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Archiv-Artikel

Es fährt kein Zug nach Rostock

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Merkel grillt mit Bush, während auf Beirut die Bomben fallen. Das ist wohl doch der falsche AnsatzGemeinsam auf den Zug warten stiftet Gemeinsamkeit. Auf Luftangriffe warten noch mehr

Es war am Donnerstag letzter Woche, und ich war gewarnt. Auf eine dümmere Idee könne man gar nicht kommen, als ausgerechnet jetzt loszufahren, sagte man mir. Jedenfalls nicht nach Norden. Jedenfalls nicht nach Rostock. Denn da sei Bush.

„Ist er nicht, der ist in Trinwillershagen!“, erklärte ich, als sei das der natürlichste Aufenthaltsort für einen amerikanischen Präsidenten. Und außerdem: Dies ist ein freies Land!

Trinwillershagen. Das war gut. Das bewies Ortskenntnis. Kaum einer wusste schließlich, wo der amerikanische Präsident da heute vor einer Woche genau hingeflogen ist. Oder: Wer hat außerhalb von MV schon mal was vom Flughafen Rostock-Laage gehört?

MV heißt Mecklenburg-Vorpommern; McPom sagen nur die anderen. Der Nachrichtenkanal n-tv jedenfalls – ein sonst nicht ganz uninformierter Sender – glaubte, Rostock-Laage liege auf Rügen und sei 120 Kilometer von Heiligendamm entfernt. Dabei wusste seit dem Vorabend, also Bushs Ankunft in Laage, auch der letzte Texaner, dass MV einen eigenen Flughafen hat und der ganz nah beim ältesten deutschen Seebad ist. Und vielleicht wunderte man sich inzwischen schon in Texas über die spezifisch deutsche Logik: Wie kommen „neue“ deutsche Länder zu ältesten deutschen Seebädern?

Als Übergangs-, Orientierungs-, Sammelplural ging dieses „die neuen Länder“ ja noch. Sogar mitsamt des leicht nachsichtigen Tonfalls. Aber dass wir, irgendwie doch die ältesten deutschen Länder, fünfzehn Jahre später immer noch „neu“ sind, das ist …

Doch wir Nordmenschen sind leidensfähig. Wir haben ungefähr das kommunikative Temperament der Fische. Und die Kränkung, die darin liegt, dass nur noch die Regionalbahn von Berlin nach Rostock fährt, erkennt man höchstens an unserem stoischen Blick aus dem Fenster unterwegs. Besonders an Bahnhöfen, die so weltläufige Namen wie Dannenwalde, Gransee oder Lalendorf tragen.

Der Zug lässt keinen aus. Wir sind nicht größenwahnsinnig. Wir reden nicht von ICEs. Aber kein einziger Intercity von Rostock nach Berlin? Ist schon sehr gut, dass der, nun ja, wichtigste Mann der Erde in eine Weltgegend ohne Intercityanschluss wollte. Das relativiert vieles, fand ein mit wartender Nordmensch am Bahnhof.

Die 12.500 Polizisten, die 998 verschweißten Gullydeckel in Stralsund, die man alle wieder aufschweißen muss, die paar Millionen Euro … vielleicht sogar die verplombten Häuser am Markt. Ich überlegte: Die Freiheit kommt dich besuchen, und du sitzt verplombt zu Hause?

Es ist seltsam, aber schon 25 Minuten Verspätung genügen, um die zivilisatorische Errungenschaft der abstandsvollen kultivierten Kälte zwischen uns einzuschmelzen. Aus einem reisenden Atom wird ein Unterwegsmolekül, ein ganzer Molekülverband. Nur die Lautsprecherstimme sprach uns immer noch als Einzelne an: „Meine Damen und Herren am Gleis 9!“ Mit norddeutscher Fassung, reglos hörten wir, dass „der Regionalexpress – von – Lutherstadt Wittenberg – nach – Rostock – heute voraussichtlich …“

Wieso sprechen diese bahnhofseigenen Überbringer schlechter Nachrichten eigentlich jedes Wort einzeln mit Betonung auf der ersten Silbe, und wieso kommt die Hauptsache, die Verspätung, immer zum Schluss? Neuer Stand: 45 statt 25 Minuten.

Dem Regionalbahnfahrer schlägt keine Stunde, doch der erste Schatten eines ernsten Zweifels strich über die Gesichter der Wartenden. „Wo ist der Bush jetzt eigentlich gerade?“, fragte jemand, plötzlichen Verdacht in der Stimme. Das muss so gegen 19.30 Uhr gewesen sein. – Trinwillershagen, hätte ich jetzt in beiläufigstem Insidertonfall sagen können. Wenn Menschen mit Insidertonfall nicht so unsympathisch wären. „Trinwillershagen!“, rief ein anderer. Die Umstehenden nickten verständig. Ja, wo soll der Bush auch sonst sein?

„Meine Damen und Herren am Gleis 9!“ Unmerkliches Zusammenzucken. Und wieso „meine“ Damen? Was soll dieses fehlgeleitete Possessivpronomen? „… Regionalexpress von … nach … entfällt heute wegen Störungen im Betriebsablauf.“ Das gab es noch nie. Bush!

„Wo liegt eigentlich dieses Trinwillershagen?“, fragte der Bush-Enthusiast von vorhin. Wer von der Küste war, schaute jetzt kompetent. Aber nur für Sekunden. Dann war klar: Das wusste keiner. Die meisten gingen jetzt wieder nach Hause. Man kann eben nicht in den Norden fahren, wenn Bush da auch gerade ist.

Aber die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Tages und des bestversteckten MV-Dorfes verstand ich erst nachher: Bomben fallen auf Beirut, und Bush und Merkel grillen in Trinwillershagen! Die globale Leichtigkeit des Seins, als die Erde noch rund wie ein Fußball war, war zu Ende. Das Runde ist das Vollkommene, jeder weiß das. Und jeder weiß, dass die Welt in Wirklichkeit eckig ist. Aber so schnell?

An diesem Abend sagte Angela Merkel zum ersten Mal sinngemäß den Satz: „Die Botschaft heißt jetzt, dass wir die Ursachen benennen.“ Ziemlich kranke Syntax, rein semantisch gesehen. Dabei hatte Bush uns gerade noch erklärt, dass unsere Kanzlerin „eine kühne Vision hat und ein Herz voller Demut“. Voller was? Kann sein, der Präsident meinte Merkels Demut vor der Sprache. Und kühne Visionen sind vielleicht das Unzeitgemäßeste überhaupt. Vielleicht brauchen wir gerade jetzt vor allem Menschen, die Sätze bilden können, die von ihnen selbst sind. Nicht-Merkel-Sätze.

Schröder, immerhin, konnte das. Sätze jenseits der Großlogiken. Und Grillen mit Bush ist – global gesehen – wohl doch der falsche Ansatz. Nie war das klarer als in Trinwillershagen. Garantiert verstehen Bush und Merkel die Prognose mancher Nahostexperten nicht: dass heute die Hälfte der Menschen im Libanon gegen die Hisbollah ist; und dass es, je länger der Beschuss dauert, immer weniger werden könnten. Wer einmal gemeinsam umsonst auf einen Zug gewartet hat, begreift das schon eher. Es ist das Molekülprinzip. Mikrologik. Und gemeinsam Angst vor Bomben haben verbindet noch viel mehr. Es schafft die ganz falschen Amalgame.

Ich weiß jetzt doch, wo Trinwillershagen liegt. Ungefähr auf halbem Wege zwischen Rostock und Stralsund. Es sei alles irgendwie wie früher gewesen. Vielleicht, weil das „Volk“ genauso gemogelt war wie damals und wegen der vielen Winkelemente, die heute Fanfahnen heißen. Allerdings haben die Sicherheitsleute dem Volk in letzter Sekunde die Holzstiele aus den kleinen Fanfähnchen gezogen, und da waren es – schon wieder Winkelemente.

Aber die Absperrungen haben die Trinwillershägener nicht wirklich irritiert. Sie kennen das schon von der Maul-und-Klauen-Seuche. Und vielleicht ein bisschen von Ulbrichts und Honeckers Besuchen.

George W. Bush war doch nicht der erste Staatsmann in Trinwillershagen. Aber die anderen beiden kamen aus anderen Gründen. Die Trinwillershägener LPG Rotes Banner war nämlich die beste LPG []weit und breit. Sagt man. Konkurrenzloser Sieger im „sozialistischen Wettbewerb“.