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KOMMENTARErzwungenes Bewußtsein

■ Oststreik: Das Warten auf gerechtes Teilen ist zu Ende

Schon die Dramaturgie des Geschehens spricht für sich. Am Dienstag abend noch rühmt der Senat seinen Mut, aus der Tarifgemeinschaft auszuscheren und am nächsten Morgen gehen jene, für die man so mutig sein wollte, aus Wut auf die Straße. Der Senat hat Lob erwartet und Sturm geerntet. Deswegen muß vor allem die eklatante Fehleinschätzung des Senats alarmieren. Der spontane Streik beweist aufs neue, daß der Regierende Bürgermeister zwar im Roten Rathaus im Osten sitzt, von der Gemütslage der Ostberliner aber meilenweit entfernt ist. Dem Senat den guten Willen abzusprechen ist dabei nicht einmal notwendig. Überraschen aber darf es keinen, daß jetzt ein Funke genügt. Die Arbeitsniederlegung darf dabei nicht losgelöst von den Kommunalwahlen und den Debatten um eine Ost-Partei gesehen werden. Die Reaktion auf das Wahlergebnis zeigte, wie wenig die Politik trotz der unübersehbaren Spaltung der Stadt gewillt ist, östliche Warnsignale zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren. Im Vordergrund steht bei CDU und SPD vor allem die Überlegung, auf welch undemokratischem Weg sie den Anspruch der PDS auf die Besetzung von sechs Bürgermeisterposten in Ost-Berlin verhindern können. Wenn der Westen ignoriert, daß die Menschen in Ost-Berlin zusätzlich zum immer teurer werdenden Leben, den unsicheren Arbeitsplätzen und den fehlenden Kita-Plätzen tagtäglich ohnmächtig den Beutezug der Westler, der Wohnungsräuber und Kaputtsanierer erleiden, müssen die Ostler ihre Zukunft in eigene Hände nehmen. Die Geduld ist zu Ende; das Gefühl, von den Westpolitikern links liegengelassen zu werden, ist übermächtig geworden. Nicht vergessen ist, daß der CDU-Fraktionsvorsitzende Landowsky vor den Kommunalwahlen vor einer »Ver- Ostung« des Westens warnte. Das war zur Beruhigung der Westwähler gedacht, die glauben, den Ostlern werde zuviel Geld hinterhergeworfen. Das sagen und glauben auch Politiker der SPD. Und auch die ÖTV, die sich auf eine gespaltene Tarifrunde eingelassen hat, hat ihren Anteil am Streik: Die Ostler streikten für ihre Westkollegen mit und sollen nun im Regen stehen bleiben. Die Hoffnung auf ein gerechtes Teilen hat sich aufgebraucht. Es scheint paradox, daß sich eine DDR-Identität mit ausgeprägtem Klassenbewußtsein erst jetzt herausbildet. Noch paradoxer ist, daß dafür der Westen selbst gesorgt hat. Gerd Nowakowski

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