: Erziehung aus einem Geist
Wie zeitgemäß ist die Waldorfschule? ■ Von Heiner Ullrich
Für viele ist sie geradezu die Schule der Zukunft: Die Waldorfschule. Eine freie Schule, die über Organisation, Personal und Mittel selbst bestimmt. Eine Schule mit pädagogischer Prägung, die durch erweiterte musische, soziale und praktische Lernformen ermöglicht, Kinder umfassend und entwicklungsgemäß zu bilden. Die Zahl der Waldorfschulen hat sich im vergangenen Jahrzehnt etwa verdoppelt. Diese Resonanz und die organisatorischen Vorzüge dürfen aber nicht den Blick für die Schwächen der Waldorfschulen trüben, die sie eher zu einer Schule von gestern machen. In den wenigen empirischen Studien und kritischen Erfahrungsberichten stößt man auf einige Probleme.
In Waldorfschulen wird Anthroposophie nicht als Fach oder Thema gelehrt. Denn Waldorfschulen verstehen sich nicht als Weltanschauungsschulen. Und doch: Die wesentlichen Merkmale dieses Schultyps lassen sich letztlich nur aus „den geisteswissenschaftlichen Forschungen“ Rudolf Steiners verstehen: Räumlich etwa gilt das für die „organische“ Schularchitektur, die rechte Winkel meidet oder für die Sitzordnung der Schüler nach den vier Temperamenten. Auch zeitlich findet das seinen Ausdruck: Die Unterstufe beginnt mit dem Zahnwechsel, die Oberstufe mit der Geschlechtsreife. Jede Woche müssen die Schüler ihren Zeugnisspruch vor der Klasse aufsagen, die Abfolge der Schulstunden richtet sich nach dem Schema von Kopf, Herz und Hand. Die Kinder haben bis zum achten Schuljahr denselben Klassenlehrer, die Hauptlesestoffe von den Grimmschen Märchen bis zu Goethe werden in „organisch-genetischer“ Reihenfolge behandelt. Auch wenn die Lebenswelt der Kinder sich inzwischen tiefgründig gewandelt hat, wird von diesen Grundsätzen nicht abgegangen. Denn Steiner hat unverrückbare Normen „geistgemäßer Erziehung“ geschaffen.
Dabei sind seine zentralen Dogmen: die den Sinnen zunächst verborgene geistige Welt, zu deren Erkenntnis jedermann durch eine Schulung der inneren Anschaung gelangen kann; die Auffassung vom Menschen als Mikrokosmos sowie die Lehre von der Wiederverkörperung der Seele und ihrer Verkettung mit ihren früheren Erdenleben durch das Karma.
Im Lichte dieser Weltanschauung besteht die Gefahr, daß dem Waldorflehrer die Schüler als wiederverkörperte Seelen erscheinen, die das Karma in der Klasse zusammengeführt hat. Ihre Charakterzüge sind, so heißt es bei Steiner, auf dem Weg durch die sieben Planetensphären entstanden, ihr Temperament aus dem Mischungsverhältnis der vier kosmischen Elemente bei ihrer leiblichen (Wieder-)Geburt.
Es ist zu hoffen, daß eine solche okkulte Seelenlehre den Waldorfalltag nicht mitbestimmt. Und das ist sicher auch in vielen Waldorfschulen kein Problem. Denn andernfalls wird jeder gründlichen Analyse der Erziehungswirklichkeit der Boden entzogen. In den meisten Waldorfschulen gibt es bis heute kein reguläres Forum für Selbstkritik. Daher besteht die Gefahr einer orthodoxen Abschottung von der heutigen Wissenschaft und Gesellschaft.
Aus anthroposophischer Sicht ist Erziehung Inkarnationshilfe. Daher verstehen sich viele Waldorflehrer, besonders die Klassenlehrer, als Seelenführer ihrer Kinder. Hier ist eine Tendenz zur pädagogischen Selbstüberforderung angelegt, gerade bei Klassengrößen von rund 35 Schülern. Der enge, fast familiäre Umgang mit „seinen“ Kindern kann zur Überbehütung führen; die „Leib- und Lustfeindlichkeit“ und der „antitechnische und lebensreformerische Affekt“, die der Erziehungswissenschaftler Heiner Barz bei vielen Waldorflehrern vermutet, erzeugt Spannungen mit Eltern. Der Anspruch des Klassenlehrers, von der Mathematik bis zur Kunstgeschichte alle Schulfächer zu unterrichten, kann zu Dilettantismus führen. Das gilt erst recht, weil auf den Einsatz von Lehrbüchern verzichtet wird.
Durch die vielen Pflichten außerhalb des Unterrichts sind Lehrer in den neugegründeten Waldorfschulen stark belastet. Deshalb können sie nicht immer die nötigen Planungen für den vierwöchigen Epochenunterricht leisten. Aber selbst guter Waldorfunterricht ist in der Regel Frontalunterricht. Lernen in kleinen Gruppen, entdeckendes Lernen, Projektunterricht oder Wochenplanarbeit sind den Waldorfpädagogen bis heute fremd geblieben. Zwar haben die Waldorfschulen die „Zensurenpeitsche“ abgeschafft, aber auch hier gibt es Schulstreß und Nachhilfestunden. Mit der endgültigen Entscheidung für die zweite Fremdsprache ab Klasse neun beginnt der Kampf um einen möglichst guten Schulabschluß.
Steiner wollte eigentlich Schulen vor allem für Arbeiterkinder schaffen. Heute jedoch stammen die meisten Schüler der Waldorfschulen aus akademisch gebildeten Elternhäusern. Über die Schulwahl (und Schulgeld) entsteht hier eine Erziehungsgemeinschaft, die die Kinder einem pädagogischen „Orden“ mit traditioneller Wertsetzung (unter anderem Christlichkeit) anvertraut. Die gemeinsame Erziehung aus einem Geist erhöht die Prägekraft dieser pädagogischen Welt. Sie reduziert damit aber zugleich die Möglichkeiten individueller Bildung an den vielfältigen Denk- und Lebensformen der Gegenwart. Es ist zu hoffen, daß die Waldorfschulen die Gefahren der Selbstisolation und Abschottung bannen können. Denn in der Zukunft wird die Waldorfpädagogik nur attraktiv bleiben, wenn sie im Dialog mit den Wissenschaften den idealistischen Tiefsinn ihrer Weltanschauung vom okkulten Unsinn scheidet und wenn es jeder einzelnen Waldorfschule gelingt, durch Prozesse der Selbstevaluation und der Selbstkritik zu einer „lernenden Organisation“ zu werden.
Der Autor lehrt Pädagogik an der Universität Mainz
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