Erinnerung an Karl Carstens: Der Sohn des toten Vaters
Vor 100 Jahren wurde Karl Carstens geboren, der einzige Bremer und erste SA-Mann, der die höchsten Ämter der Bundesrepublik bekleidete.
BREMEN taz | So ist es gewesen, sagt die Erinnerung, genau so: Wohlige Wärme durchwebt den Raum. Köstlich entfalten sich die Aromen der heißen Schokolade im Tässchen feinsten Porzellans, die Lichter glänzen und edle Gehölze vertäfeln die Wand.
Es ist absolut möglich, dass im Rückblick das alles noch eine Spur edler und prächtiger und würdevoller erscheint. Vielleicht war der Salon nur ein überheiztes Kabuff und der Kakao bloß Kaba. Und ganz sicher habe ich verdrängt, dass ich einen Pullunder trug. Doch das ist das Recht der Erinnerung, denn sie ist das Bild, das bleibt. Das einzige Bild, das sich, ob wahr, ob falsch, unmittelbar ergeben hat, aus dem Aufenthalt in jenem Seitengelass der Villa Hammerschmidt, in das ich mit einem schwer beschreiblichen Hochgefühl getreten war, das mein ganzes junges Ich durchströmte: Ich war Karl Carstens begegnet.
Karl Carstens, der einzige Bremer und der erste SA-Mann, der es in die höchsten Ämter der Bundesrepublik geschafft hat, der Bundespräsident Karl Carstens, dessen Unterschrift so aufrecht, so markant, mit dem entschiedenen K und dem männlichen großen C die Bundesjugendspielurkunden erst zu einem Wunschobjekt machte, hatte mir die Hand gedrückt, während ich mich noch bemühte, meine Bratsche schnell samt Bogen in die linke zu wechseln. Und Karl Carstens hatte mir über die Haare gestrichen. Ich bin seither so gut wie nie mehr zum Frisör gegangen und habe sie auch nur widerstrebend gewaschen.
Entschiedenes K, männlich großes C
Ach!, Karl Carstens. In Bremen wenigstens hat der Bürgermeister jetzt noch, obschon vergrippt, rühmende Worte zu Carstens 100. Geburtstag in die Redaktionsstuben gesandt und die örtliche CDU-Bundestagsabgeordnete hat den 1992 verewigten, 1,89 Meter großen Sohn der Stadt einen „Politiker, wie man ihn sich wünscht“ genannt. Sonst aber scheint der hagere Mann fast völlig vergessen. Nur ich muss immerfort an ihn denken.
Schließlich kann ich nicht ausschließen, dass ich seinetwegen das Schreiben zum Beruf gemacht habe: Carstens hat mir damals einen Silberfüller geschenkt, also kein echtes Silber, aber mit Gravur, „Der Bundespräsident“, in den weder Pelikan noch Geha-Patronen passten, und der leider irgendwann sapschte und alles verschmierte, sodass ich ihn schließlich mit schwarzfleckigen Fingern in den Papierkorb donnern musste.
Auch gibt es ein Foto von uns, also vom Orchester und dem Präsidenten: Er steht links bei den ersten Geigen, im Hintergrund zwei prächtig geschmückte Tannen, und ich ihm, als einzige Viola, direkt vis à vis. Wir schauen uns also an, er im Anzug, ich im Pullunder, den meine Oma mit der Strickmaschine gestrickt hatte, und es wirkt, als herrsche ein tiefes Einverständnis zwischen uns beiden, ihm und mir, mir und ihm, wobei dieser längst verblichene Farbabzug, der alles beweisen könnte, leider verschollen ist.
Die Begegnung mit Carstens war mein zweiter Schritt zum politischen Bewusstsein: Der erste, das war auf der Hofgartenwiese, wo ich an dieser Masse von Menschen, die unsere liebste Fußballwiese vor der Uni plätteten, links mit meinem Klapprad dran vorbeischob, bis ich unversehens vor der Bühne stand, auf der eine Frau mit besorgniserregenden Augenringen Sachen sagte, die mir Angst machten: Dass Helmut Schmidt zurücktreten sollte, ja durfte man denn so was sagen? Und: „Die Totenscheine für den 3. Weltkrieg sind schon gedruckt“, rief die Frau. Mir fuhr jedenfalls ein Mörderschrecken in die Glieder, ich bin aufs Rad und nach Hause und hatte die ganze Nacht über Albträume.
Das war Oktober gewesen und Petra Kelly. Bald darauf kam, im Advent, Karl Carstens. Und das war doch eine ganz andere Geschichte, so tröstlich: Allein schon diese sich über fröhlich funkelnden, dunklen Knopfaugen kunstvoll sträubenden Augenbrauen! Wobei ich zugeben muss, ihn manchmal mit Walther Louis Leisler Kiep verwechselt zu haben, den später wegen Steuerdelikten und Falschaussagen verurteilten Kriegsverbrecherschwiegersohn und CDU-Schatzmeister, im Grunde dieselben Augenbrauen, ohne dass sich, wenigstens gestützt auf öffentlich zugängliche Quellen, eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen dem Hamburger und dem Bremer vernünftigerweise auch nur annehmen lässt, obwohl beide stets denselben Parteien angehörten.
Aber vergessen wir Leisler Kiep.
Jedenfalls verkörperten diese Augenbrauen – die ja etwas ganz anderes waren als die aggressiven Dachshaarrasierpinselbuschen Theo Waigels (CSU) – markant, männlich, entschieden und aufrecht eine Art politisches Ideal. Sie weckten mein Zutrauen. Jemand, der über solche Augenbrauen verfügte, konnte über vieles, was andere schlimm fanden, auch mal hinwegsehen, der hatte schon qua supraorbitaler Behaarung ein Auge beinahe zugedrückt, auch im Hinblick auf die eigene Vita. „Kein Politiker kann in jedem Augenblick alles sagen, was er denkt“, ist einer der Sätze von Carstens, die überdauern werden.
Was für ein fürstliches Geschenk!, dachte ich, als ich das Fülleretui aufschnappen ließ; wir alle aus dem Streichorchester der Musikschule Bonn hatten einen solchen Füller bekommen, unterschiedslos, die hübsche Sologeige mit dem dicken blonden Zopf und den üppigen Lippen genauso wie der kleine pummelige Bratscher mit orangenem Pullunder, und insgeheim beneidete ich die ganzen siebten Kinder, die ja ihn als Paten hatten, also Carstens, das heißt den Bundespräsidenten, früher hätten ihre Mütter das Mutterkreuz bekommen, und zu deren Empfang wir in der Villa Hammerschmidt aufspielten. Denn wenn wir so einen astreinen Füller schon fürs Mucken bekamen, was würden die dann wohl zu Weihnachten kriegen? Seither jedenfalls gilt ihm, also Carstens, meine innige Zuneigung, meine – ich möchte nicht sagen Liebe, aber –
Gesten des Widerstands
Es gibt halt immer diese Vorbehalte, bei Carstens, wegen der Nazisache, der Mitgliedschaft in Sturm 5 Standarte 75, in die Partei wurde er gegen seinen Willen „hineingezogen“, hat er selbst gesagt. Wer aber kennt seine Gesten des Widerstands? Wer weiß, dass Carstens, als er in die Wehrmacht sollte, aus der SA austrat und als er vom Dienst an der Waffe im Heer wegen des Studiums zurückgestellt worden war, nicht sofort sich beim Sturm 5 der Standarte 75 wieder einsatzbereit zurückgemeldet hat? Und wer ahnt, dass Carstens in seiner Dissertation, die Voraussetzung war für seine glänzende Behördenkarriere nach dem Krieg, Juden versteckt hat, also jüdische Juristen zitiert, obschon das verboten war und daher ohne ihre Namen zu nennen, das muss man auch immer mit bedenken.
Genau genommen hat Karl Carstens nur diesen einen greifbaren Fehler, dass nicht auch sein Vorname mit C geschrieben wird. Und auch den hatte nicht er selbst zu verantworten, sondern allenfalls seine Mutter, die, frisch verwitwet, ihn in jenen ersten Kriegswinter hineingebar, im schicken Schwachhausen, aber: „Jetzt kommt der Abstieg“, vielleicht blitzte dieser Gedanke Gertrud Carstens durch den Kopf, als die Nachricht sie erreichte: Ihr Mann Carl war am 6. Oktober an der Westfront in der Farm La Potière bei Noyons verreckt. Der Abstieg, diese Drohung muss über der Kindheit des kleinen Karl gehangen haben. Der Einfluss des toten Vaters sei „kaum zu ermessen“ gewesen, hat er später bekannt. Die ferne Leiche sei sein „Vorbild schlechthin“ gewesen, „jahrzehntelang“, ihr nachzueifern ein Leitmotiv seines Lebens.
Ein bisschen gruselig war Carstens auch. Das Wandern, okay, ein sympathischer Spleen, ich wandere auch gerne und irgendwie hat er sich in den Kopf gesetzt, jeden Gau der schönen Heimat Meindl-beschuht zu durchqueren, was er in einer Amtszeit hinter sich brachte, sodass er keine zweite brauchte. Aber unheimlich ist jene esoterische Ader: Die nach ihm und seiner Frau Veronika benannte Stiftung „zur Erforschung der Naturheilkunde“ soll seine, nicht ihre Idee gewesen sein. „Dann trat“, bezeugte die Witwe später, „etwas völlig Unerwartetes ein: Als die Existenz der Stiftung an die Öffentlichkeit drang, war die Resonanz überwältigend.“ Und siehe: „Tausende verstanden unser Anliegen und wollten helfen“, und so ward denn in kürzester Zeit das erste Forschungsprojekt finanziert. Es widmete sich dem „provokanten Thema Erdstrahlen“. Das hätte sicher auch Petra Kelly interessiert.
In den Füller praktizierte ich die Tinte mithilfe einer kleinen Spritze. Es war schwarze Tinte, das empörte meinen Mathe-Lehrer, aber welche hätte denn besser gepasst? In Bremen haben sie Carstens nicht vergessen. In Bremen haben sie eine Brücke nach ihm benannt, zwischen Hastedt und Habenhausen. Es ist eine unauffällige und praktische Brücke, die Autos zischen drüber, viele Laster. Fußgänger, das ist etwas paradox, meiden sie, die Strecke zieht sich und es ist nicht schön auf dieser Brücke stehen zu bleiben, zu verweilen, weil es meistens regnet und oft auch kühl hoch weht, gerade jetzt, und die meisten sagen Erdbeerbrücke, weil Erdbeeren eine ideale Verbindung herstellen zwischen Schlagsahne und Zucker, und nicht Karl-Carstens-Brücke, wie es richtig wäre.
Unauffällige Verbindung
Karl Carstens verkörperte eine ideelle Verbindung zwischen Nazizeit und Bundesrepublik, eine bruchlose, eine nahtlose, eine unauffällige, eine gänzlich unauffällige, eine gleitende, eine schleichende, die nicht aneckt, keine Spuren hinterlässt, wie ein Fluidum: „Inwieweit Carstens“, resümiert sein treuer Biograf Tim Szatkowski dessen Wirken als Chef von Kurt Kiesingers Kanzleramt, „Einfluss auf politische Entscheidungen nahm, ist angesichts der Aktenlage nicht leicht zu bestimmen.“ Der Satz steht letztlich für dieses ganze, viel zu schnell vergessene Leben.
Es ist eine Pflicht, sich daran zu erinnern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen