: „Englische Krankheit“ in Deutschland?
Hamburg (dpa) — Der Streik im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik wird im europäischen Ausland mit Sorge verfolgt. In zahlreichen Pressekommentaren vom Dienstag wird skeptisch gefragt, ob Bonn wohl auch weiterhin seinen weltweiten Zahlungsverpflichtungen nachkommen könne. Einige Blätter bringen den Streik und die Ankündigung des Rücktritts von Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Zusammenhang und meinen, beide Ereignisse signalisierten das Ende einer ganzen Epoche, die von Stabilität gekennzeichnet gewesen sei. Der Pariser 'Figaro‘ bringt es auf die Formel, daß die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst nicht mehr zahlen wollen und ihre neuen Mitbürger, die Ostdeutschen, nicht schätzen.
Die Finanzminister von Norwegen und Schweden äußerten ihre Sorge über steigende Zinsen als Folge eines möglicherweise langen Streiks. In beiden Ländern folgen die Zinsen wegen der großen Bedeutung der D-Mark für die Landeswährung im wesentlichen den Bewegungen in Deutschland. 'The Japan Times‘ schreibt über die deutsche Rolle bei der Finanzhilfe für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und befürchtet, daß der Streik auf die Geberlaune Deutschlands drückt: Wenn Deutschland den Gürtel enger schnallen müsse, sei kein Kandidat in Sicht, der die Lücke schließen könne.
Französische Zeitungen meinen, die Streiks seien eine Folge der Wiedervereinigung. Sie verweisen auf die wirtschaftlichen Folgen auch für andere europäische Länder und appellieren an die ökonomische Verantwortung der Deutschen. 'Libération‘ (Paris) spricht hintersinnig von einer „Mauer des Streiks“ und meint, die „Gewerkschaften weigern sich, die Mehrkosten der Vereinigung zu zahlen“.
In britischen Kommentaren heißt es, daß sich die von Deutschen verspottete „Englische Krankheit“ (hohe Arbeitskosten bei sinkenden Gewinnen, Verlust internationaler Wettbewerbsfähigkeit, höhere Lebenskosten, Gürtel enger schnallen) auf Deutschland ausgebreitet habe, in England selbst aber nun kuriert sei. Für die 'Times‘ wurde im Laufe der Jahre die berühmte deutsche Arbeitsethik durch „Ferienethik“ ersetzt.
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