piwik no script img

Archiv-Artikel

England wird Halbfinalist

Lars Leese liest das Spiel: Das englische Mittelfeld ist eines der besten bei dieser WM. Es ist offensiv und defensiv stark und hat zwei überragende Flankenspieler. Aber es gibt da eine Schwäche

VON LARS LEESE

Es ist so wie alle Jahre, wenn ein großes Turnier ansteht. England, das heute gegen Paraguay in die WM startet, will Weltmeister werden. 40 Jahre nach dem Triumph von Wembley wollen sie endlich wieder den WM-Pokal. Ist das realistisch?

Tatsächlich hat Trainer Sven-Göran Eriksson einen gut besetzten, sehr ausgeglichenen Kader. Die meisten Spieler verfügen über langjährige internationale Erfahrung, spielen in der englischen Premier-League (mit Ausnahme des erst 17-jährigen Theo Walcott) oder wie David Beckham bei einem ausländischen Topclub.

In der Abwehr sind die Engländer mit dem wiedergenesenen Neville, mit Terry, Ferdinand und Ashley Cole sehr stark besetzt. Da die englischen Mannschaften schon seit vielen Jahren Viererkette spielen, wird es kaum Abstimmungsprobleme geben. Schwierig könnte es allerdings werden, wenn die beiden Abwehrhünen Terry und Ferdinand auf einen kleinen, quirligen Stürmer treffen, weil sie mir beide dafür zu ähnlich sind und zu unbeweglich wirken. Ein sicherer Rückhalt wird Keeper Paul Robinson von Tottenham Hotspur sein. Als ehemaliger Torhüter muss ich sagen: Er ist nach langer Zeit wirklich mal wieder einer, der auch mal einen Punkt retten kann. Das ist ein klares Plus im Vergleich zu den letzten Jahren.

Das Mittelfeld halte ich qualitativ für eines der besten bei diesem Turnier. David Beckham hat im Trainingslager einen überragenden Eindruck gemacht. Mit dem Kapitän über rechts und mit Joe Cole über die linke Seite verfügt England über zwei überragende Flankenspieler.

In einer flachen 4-4-2 Formation spielen voraussichtlich Paul Lampard und Steven Gerrard. Das sind zwei der stärksten Mittelfeldspieler Europas, die sowohl in der Defensive als auch in der Offensive sehr stark agieren. Taktisch könnte es sich vielleicht das eine oder andere Abstimmungsproblem ergeben. Beide sind torgefährlich, aber wenn sie sich gleichzeitig in die Offensive einschalten, könnte sich im Mittelfeld ein großes Loch auftun, das die gegnerische Mannschaft dann mit schnellen Kontern auszunutzen versucht. Mit einem solchen schnellen Konter den Ball vorn zu haben, bevor die Enge wiederhergestellt ist, darin liegt wahrscheinlich die größte Chance, gegen England zum Torerfolg zu kommen.

Kommen wir zur Achillesferse des englischen Fußballs – dem Angriff. Eriksson hat durch die Verletzung von Wayne Rooney bis auf weiteres nur zwei gestandene Stürmer. Es handelt sich um ein fast idealtypisches Sturmpärchen. Den kopfballstarker Stoßstürmer Peter Crouch – und den schnellen Dribbler Michael Owen.

Crouch ist 2.01 Meter und gehört damit wie Jan Koller zu dem neuen Typus Riesenstürmer. Er soll über Beckham und Joe Cole mit exakten Flanken bedient werden oder einen langen, nach vorne geschlagenen Ball in den Rücken der Abwehr auf den startenden Owen verlängern. Das ist ein Mittel, dessen sich die englische Nationalmannschaft schon seit Jahrzehnten bedient. Da Eriksson aber eigentlich Passspiel bevorzugt, müssen die gegnerischen Teams daran arbeiten, dass der schnelle Owen nicht auch durch die Mitte bedient werden kann.

Das macht das Angriffspiel sehr variabel, und es ist sehr schwer für die gegnerischen Mannschaften, sich darauf einzustellen. Zudem hat man mit Theo Walcott einen Stürmer auf der Bank, der zwar noch keine Sekunde in der englischen Eliteklasse gespielt hat, der aber über ein ähnliches Tempo wie die deutsche Spätnominierung David Odonkor verfügt. Sollte die englische Mannschaft in Führung gehen, ist Walcott eine gute Einwechseloption gegen aufrückende Gegner.

Wayne Rooney wird aller Voraussicht nach erst zum Achtelfinale einsatzbereit sein. Die Qualitäten des wuchtigen Mittelstürmers mit dem enormen Tordrang sind hinlänglich bekannt. Unklar ist, ob er sofort wieder fit genug sein wird, um in einem WM-Turnier tatsächlich Akzente zu setzen. Wenn er fit ist, muss er sicherlich spielen. Spannend ist dann die Frage, wer für ihn weichen muss.

Ich bin sicher: Die englische Mannschaft wird die Gruppenphase gegen Paraguay, Trinidad & Tobago und Schweden mühelos überstehen. Behalten sie die Nerven und können sie die Abstimmung im zentralen Mittelfeld verfeinern, haben sie eine Chance, sehr weit zu kommen. Mein Tipp ist: Halbfinale. Allerdings nur, wenn es vorher kein Elfmeterschießen gibt.

LARS LEESE, 36, Exprofi und Trainer, gehört zum WM-Analyseteam der taz. Leese war Torhüter in der englischen Premier League und trainiert jetzt den Oberligisten SC Bergisch Gladbach. Für die taz analysiert er die WM aus der Sicht des Trainers