: Engel am Umschlagspunkt
■ Ati Maier bei Cardoso-Ribeiro
Im Osten wird das Land täglich ein bißchen größer. Es verliert viel von seiner mythischen Verwurzelung im abgeklärten Blick des sprachgesteuerten Mittelwestlers und überlistet ihn dennoch mit der unverbrüchlich genuinen Durchschlagskraft von mitunter ikonischen Zeichen. Als Zeichen »der russischen Seele«, Ausdruck der archetypischen menschlichen Gesellschaft. Auf diese sich einzulassen und ihre Tiefe zu entschlüsseln, war bislang Vorrecht müßiggehender, melancholischer Bürgermenschenkultur, exaltiert in den 10er Jahren, Erlösung suchend nach dem 1. Weltkrieg. Nirgendwo sonst hatte das Leiden ein Gesicht bekommen, das den Menschen so unverwandt anblickte, wie in der russischen Nachkriegsmalerei. Seit ein paar Jahren entsteht der Kulturaustausch im Dialog der Künste beider Horizonte. Somit gibt es immer mehr Arbeiten, die vom Blick ins Abgründige mehr als nur ein Abbild erstellen. Noch das belastetste Zeichen muß eine stille Verbindung mit dem Leben eingehen.
In der Ausstellung »Und der Esel sah den Engel« vereint Ati Maier 9 Bildobjekte zwischen Zahlenmystik und spiritueller Erkenntnis. 9 Reiter, 9 Engel, 9 Wächter, die wiederkehrende Anzahl ist mehr als bloß numerisches Spiegelungszeugnis auf der Wasseroberfläche des Zauberbrunnens. Vielmehr muß dort hinabgestiegen werden, muß durch die spiegelnde Fläche hindurchstoßen, wer in die Eigenwelt des Abgebildeten eindringen wollte. Es sind feine, verletzliche Wesenheiten und Gegenstände, die den Besuchenden auf dieser Seite der Symbole erwarten. Tauben und Schwäne sind noch die einzigen Flieger am Firmament, die Engel verlöschen fast in einem kurzen goldenen Aufflammen in tiefen Schächten. Pechschwarz harren Wächter aus, daß auch auf sie einmal das Licht des Tages falle und ihr funkelndes Eigenleben erstrahle. Die Bilder warten allesamt auf dieses Licht, das auf der Netzhaut des betrachtenden Auges entsteht.
Dann sieht der Esel die Engel, die bei reflektierender Herangehensweise nur die matte Seite ihres Verweisungscharakters aufzeigen. Dann sind die Engel von Klee, die Pferde von Franz Marc, die Poesie abgeschmackt, der Slowenismus von laibachscher Präponderanz. Das leuchtet ein, wirft aber kein Licht auf die stille Kraft der Arbeiten. Die kann man kaum mit abgewandtem Blick, nur der Geschichte zugeneigt, erkennen. Auch der mythische Hintergrund ist nicht eindeutig, und doch ähnlich einfach, immer am Umschlagspunkt der Natur. Dort erkennt man in der Verwendung von Eitempera die Herkunft von Farbe aus der Natur, und den Abdruck der Natur selbst, wie sie auch in archaischen Zeichnungen aufgeht.
In der Galerie Cardoso-Ribeiro, Riemannstr. 10., 1-61; bis 1.12., Do-Sa 12-19 Uhr. Harald Fricke
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