piwik no script img

Endstation Einheit

Heinrich August Winkler schreibt die Geschichte der Berliner Republik: Mit 200 Jahren Verspätung ist Deutschland im Westen angekommen

von RALPH BOLLMANN

Dies ist das richtige Buch zur richtigen Zeit. Als der Berliner Historiker Heinrich August Winkler das Manuskript im vergangenen Sommer abschloss, lag der Streit um Doppelpass und Kosovo-Krieg gerade ein Jahr zurück. Die Debatte über den Rechtsradikalismus hatte kaum begonnen, und die Kontroverse um den Begriff einer deutschen „Leitkultur“ sollte wenig später folgen.

Für Winkler sind all diese Auseinandersetzungen Zeichen einer neuen Normalität. Im Kosovo-Konflikt musste die Bundesrepublik erstmals darauf verzichten, sich von ihren Bündnispflichten unter Verweis auf historische Schuld freizukaufen. Mit dem Wegfall des Blutsprinzips bei der Staatsangehörigkeit verabschiedete sich die rot-grüne Bundesregierung ebenfalls von einem deutschen Sonderweg.

Mittlerweile hat selbst die Union nichts mehr gegen die Einwanderung. Die „Leitkultur“ des CDU-Fraktionschefs Friedrich Merz solle diesen Umstand nur „verdecken“, gab Winkler in einem Interview zu Protokoll. Lediglich im Osten des Landes gebe es noch „antiwestliche Ressentiments“, wie der grassierende Rechtsextremismus zeige.

Auf der Ebene der großen Politik steht für Winkler jedoch seit dem 3. Oktober 1990 fest, dass die Bundesrepublik zu einem „normalen“ westlichen Land geworden ist. Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist Deutschland ein saturierter Nationalstaat und zugleich eine stabile Demokratie – ein Zustand, den die Franzosen bereits 1789 erreicht hatten. Der „lange Weg nach Westen“ dauerte 200 Jahre, und er führte durch Abgründe, die zwischen 1933 und 1945 ihren Tiefpunkt erreichten.

Von den Irrungen und Wirrungen dieser beiden Jahrhunderte handelt Winklers Buch. Den ersten Band lässt der Historiker mit dem Jahr 1933 enden – dem Moment der größten Abweichung vom Westen. Der zweite reicht bis ins Jahr 1990 – dem Zeitpunkt der endgültigen Verwestlichung.

Das ist nicht so selbstverständlich, wie es heute vielleicht klingt. Im umfangreichen Schlusskapitel über die Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung führt der Sozialdemokrat Winkler genüsslich vor, dass gerade im linksliberalen Lager 1989/90 die Befürchtungen überwogen. Nicht nur der Saarländer Oskar Lafontaine glaubte, mit dem Beitritt der DDR setze die Bundesrepublik – politisch wie kulturell – die mühsam errungene Verwestlichung aufs Spiel. Den eigenen Landsleuten gegenüber war diese „posthume Adenauersche Linke“ so misstrauisch wie einst der erste Bundeskanzler.

Die Eruptionen des Fremdenhasses in Rostock oder Hoyerswerda schienen diese Ängste zunächst zu bestätigen, doch das politische System geriet dadurch keinesfalls in Wanken. Aus der Riege der einstigen Skeptiker war Joschka Fischer der Erste, der öffentlich die Kehrtwendung vollzog. In seinem Buch „Risiko Deutschland“ zeigte er bereits 1994, wie sich Wiedervereinigung und Westbindung auf einen Nenner bringen lassen. Es war eine Fibel für die Außenpolitik der „Berliner Republik“, die 1998 mit dem ersten „normalen“ Regierungswechsel in der Geschichte der Bundesrepublik erst wirklich begann.

Hatte sich Fischer mit seinem Buch für die spätere Rolle des Chefdiplomaten qualifiziert, so schreibt sich Winkler mit seinem zweibändigen Werk zum repräsentativen Historiker dieser „Berliner Republik“ empor. Sie erscheint in seiner Sicht geradezu als Ziel und Zweck der deutschen Geschichte. Nicht anders als Fischer kann Winkler diese These umso überzeugender vertreten, als er damit frühere Ansichten revidiert: „Angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Entstehung der beiden Weltkriege gespielt hat“, schrieb Winkler noch 1986, sollten die Deutschen „einen souveränen Nationalstaat nicht mehr wollen. Das ist die Logik der Geschichte, und die ist nach Bismarcks Wort genauer als die preußische Oberrechenkammer.“

Bemerkenswert beiläufig hakt Winkler den langjährigen Gelehrtenzwist um die Existenz eines deutschen „Sonderwegs“ ab, den der Verlag im Klappentext als „Leitfrage“ der beiden dicken Bände annonciert. Das Argument, einen westlichen „Normalweg“ gebe es überhaupt nicht, lässt der Autor gar nicht gelten: „Und wenn auch alle Geschichte eine Geschichte von Sonderwegen ist, so gibt es doch einige, die noch besonderer sind als die anderen.“

Auf 1.400 Seiten malt Winkler mit Hilfe umfangreicher Quellenzitate ein derart erschreckendes Panorama antiwestlicher Ressentiments, dass sich die Frage nach dem „Sonderweg“ für den Leser von selbst beantwortet. Das beginnt mit dem Franzosenhass eines Johann Gottlieb Fichte und den Kriegsfantasien der Revolutionäre von 1848 – und es reicht bis zum „Sühnestolz“ der westdeutschen Linken, die aus dem Holocaust eine moralische Überlegenheit der Bundesrepublik gegenüber anderen Nationen abgeleitet haben. An positiven Traditionslinien bleibt, rechts wie links, kaum etwas übrig.

Dieses Bild gerät umso düsterer, als sich Winkler auf die Darstellung der großen Staatsaktionen beschränkt, die er lediglich durch die Analyse politischer und intellektueller Diskurse ergänzt. Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft bleiben ausgespart – Gebiete also, auf denen Deutschland den Vergleich mit dem Westen oft nicht zu scheuen brauchte. „Mit unverständlicher Konsequenz“, monierte ein Rezensent des ersten Bandes, meide Winkler „jedes sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Datum“.

Doch genau dadurch unterscheidet sich Winklers Buch von den beiden Standardwerken, die es zur deutschen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte bereits gibt. Der verstorbene Münchner Historiker Thomas Nipperdey hatte in einem gewaltigen Wurf alle gesellschaftlichen Phänomene vom Postwesen bis zur Sexualität zu einem derart bunten Bild verwoben, dass sich die politischen Versäumnisse der Deutschen kaum noch davon abhoben. Und der Bielefelder Kollege Hans-Ulrich Wehler hantiert in seiner Ehrfurcht gebietenden „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ so ausgiebig mit Zahlen und Statistiken, dass selbst Historiker der Lektüre kaum gewachsen sind. Winklers erklärtes Programm ist dagegen keine „Totalgeschichte“, sondern eine politische „Problemgeschichte“, die das Verhältnis von Demokratie und Nation in Deutschland behandelt. Damit hat der Autor zu einem Zeitpunkt, an dem das politische Berlin mitten in einem Prozess der historischen Selbstvergewisserung steckt, genau ins Schwarze getroffen.

Heinrich August Winkler: „Der lange Weg nach Westen“, C. H. Beck, München 2000, Band 1: 652 Seiten, Band 2: 742 Seiten, jeweils 78 DM.Sehr schön illustriert wird Deutschlands Ankunft im Westen in „Wir sind wieder wer. Die Fünfziger“. Edition Braus. Zu beziehen nur über das Deutsche Historische Museum, 29,50 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen