: En gros, en detail
■ Michael Rohrwasser über E.T.A. Hoffmann
Wenn der menschenscheue Peregrinus Tys in E.T.A. Hoffmanns Spätwerk Meister Floh das Wunderglas aufsetzt, kann er die Gedanken seiner Gegenüber lesen. Er sieht dann „das seltsame Geflecht von Adern und Nerven“, die sich zu einem Gedanken verdichten. Nur wenn die Leute über Kunst und Wissenschaft „ganz ausnehmend herrlich sprechen“, kann von „deutlicher Erkennung der Gedanken“ gar nicht die Rede sein. Groß ist die Verblüffung, aber Meister Floh weiß warum. Denn „das, was Peregrinus für Gedanken halte“, seien gar keine, „sondern nur Worte, die sich vergeblich mühten, Gedanken zu werden“.
Michael Rohrwasser redet in seinem Essay Coppelius, Cagliostro und Napoleon. Der verborgene politische Blick E.T.A. Hoffmanns über Literatur. Und hätte Peregrinus Tys seine Gedanken gelesen — die Vielfalt hätte ihn sicher verblüfft. Goethe und Heine, Kant und Freud, Novalis und Carl Schmitt, Chodowiecki und Siegfried Kracauer, Mesmer und Foucault — sie alle tauchen in dem Gedankengeflecht des Interpreten auf. Undine, Franz Moor, Herzog Alba und Richter Adam hätte er gesehen. Aber auch Randgelagertes, Unbekanntes und Entlegenes.
Die Fülle stört aber nie die Klarheit. Peregrinus Tys hätte nicht nur Worte, sondern Gedanken gesehen. Etwa die über die Figur des Zauberers, der in vielen Texten des Romantikers zu finden ist. So treibt beispielsweise Coppelius im Sandmann sein (un)durchsichtiges Spiel. Er verkauft Nathanael ein „Perspektiv“, das dessen Blick verändert. Zwar sieht er besser und erkennt mehr. Zugleich jedoch gerät ihm das räumliche Sehen ducheinander: Das Ferne erscheint nah, die Relationen der Dinge untereinander verlieren sich. Es endet tödlich: Als Nathanael vom Turm herab durchs Perspektiv Coppelius entdeckt, hält er ihn für riesengroß. Er verkennt, daß es eine Distanz zwischen ihm und dem Zauberer gibt, stürzt auf ihn zu und damit zu Tode.
Der „Zusammenbruch der Wahrnehmung“ scheint das große Thema E.T.A. Hoffmanns zu sein, denn in fast allen Stücken tummeln sich Doppelgänger, Gespenster, Automaten und Magier. Ständig sind die Menschen gefährdet, nicht mehr Herren im eigenen Haus. So setzt Hoffmann „gegen den selbstgewissen Entwurf der Aufklärung und gegen das allseits gebildete humanistisch-klassizistische Menschenideal das Bild eines beeinflußbaren und verwundbaren Subjekts“.
Seit Sigmund Freud hat dies die Interpreten angezogen. Das „Unheimliche“ rückte ins Zentrum des Interesses, und es wurde mit psychoanalytischen Kategorien dechiffriert. Michael Rohrwasser dagegen zeigt auch die historische Dimension. Die Napoleonischen Kriege und die preußische Reaktion verstärkten das Interesse am engagierten Staatsbürger, der bereit ist, seine „Heimat“ zu verteidigen. „Es ist die Stunde der Volksheere, die Aufhebung des Unterschieds von Krieger und Untertan. Der Zivilist verliert jene Distanz zur Politik, die ihm das absolutistische System gewährt oder abverlangt hat. Mit der Zäsur der Französischen Revolution wird Parteinahme gefordert und ein mögliches Abseits zur Politik geleugnet.“ Dieser Einbruch des Politischen ins Private verunsicherte auch Hoffmann. Zwar schließt er die „große Politik“ aus seinen Texten aus. Er thematisiert vielmehr den „Griff der Politik auf das Innere des Menschen, auf seine Gedanken und Gefühle“. Nicht Staaten und Organisationen zerstören die großen „Zauberer“, sondern Individuen, verwandeln sie in Automaten und Marionetten, treiben sie in Wahnsinn und Tod.
Es macht die Stärke des Essays aus, daß Rohrwasser die großen Zeitthemen in den Details findet. Er treibt Spurensuche im besten Sinne des Wortes, so, wie wir das aus seinen Studien über die proletarisch-revolutionäre Literatur (1975), Johannes R. Becher (1980) und die Renegaten (1991) kennen. Peregrinus Tys hätte ein verwickeltes, bizarres und doch deutlich zu erkennendes Gebilde geehen, das „in die Tiefe des Gehirns“ hineinwächst. Wolfgang Rieger
Michael Rohrwasser: Coppelius, Cagliostro und Napoleon. Der verborgene Blick E.T.A. Hoffmanns. Ein Essay. Stroemfeld/Roter Stern, 1991, 126 Seiten, kartoniert, 28 D-Mark.
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