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Empfängnishilfe

■ »Cut The Line« von Desaster Area und The Mint »In A Parallel World« BERLINERPLATTENTIPS

Emilio Winschetti, seines Zeichens berlineigenes Oberhippie-Sumpfblütengewächs, hat wohl die Arbeitswut gepackt. Fast zeitgleich zur letzten Platte von The Perc Meets The Hidden Gentleman (siehe Besprechung vom 10.9.) erschien die Neue von The Mint, dem älteren, jazzlastigeren Projekt von Winschetti. Wenn The Perc Meets The Hidden Gentleman schon düster sind, dann sind The Mint mindestens rabenschwarz. Im Mittelpunkt steht zwar auch hier Winschettis bemitleidenswert depressives Organ, das in seinen Stimmungen bestenfalls die Farben von anthrazit bis grau abdeckt, doch während Winschetti mit The Perc... versucht, der leidenden und suizidgefährteten Grundtendenz einen poppigen Reiz zu geben, läßt The Mint jammernd und jammend den ganzen Schleim und Dreck einfach raus.

Das neueste Stück schwarzes Vinyl The Mint In A Parallel World (Hidden Records, EFA) ist zwar live im April '90 in der damaligen DDR aufgenommen, aber enthält nur neue Stücke und vermeidet zudem die bei Livealben so beliebte Peinlichkeit, die unvermeidliche grandiose Stimmung einzufangen und notfalls mit hinzugemixtem Zusatzapplaus aufzufrischen. Statt dessen werden die Songs, wenn nicht ausgeblendet, dann sofort abgeschnitten. Ansagen fehlen fast völlig. Die einzelnen Stücke sind ewig lang (Laufzeit der Platte ca. 50 Minuten bei sieben Songs) und ziehen sich hin — in des Wortes wahrster Bedeutung. Dafür vor allem zuständig ist Lightning Eve an der Slide-Gitarre (Zerr! Zerr!) und Uwe Bauer am Schlagzeug, der praktiziert, was ihn schon bei den Fehlfarben auszeichnete: seine stoische, unpointierte, Computerdrums aus der Steinzeit nicht unähnliche Art zu trommeln. Nur Basser Harry Schröder versucht, die dickflüssig monotone Suppe mit kleinen, sanften Licks aufzulockern.

The Mint wollen ganz offensichtlich nicht für die Langnese-Werbung verbraten werden, das ganze soll schwer im Magen liegen und das tut es dann auch. Allerdings ist The Mint In A Parallel World, wie schon erwähnt, live aufgenommen, und wenn man die angemessene Menge an Rauschmitteln bei den Anwesenden unterstellt, war das sicher ein Spaß. Auch zu Hause im Ohrensessel kann sich eine gewisse psychedelische Wirkung einstellen. Erste Testreihen mit verschiedenen Blutanreicherungsstufen sind noch nicht abgeschlossen.

Desaster Area haben mit solchen Widrigkeiten des Lebens ganz sicher keine Probleme, höchstens damit, daß sie keine Original-Rollen mehr für ihr 15 Jahre altes, direkt aus den Staaten importiertes Skateboard bekommen. Die Selbstetikettierung ist eindeutig. Desaster Area machen Skatepunk, ihre ersten beiden LPs hießen Die On Your Board und Skate'n‘Roll. In allererster Linie bedeutet das, sie sind schnell. So schnell, wie es die technischen Fähigkeiten eben noch zulassen. Die sind bei Desaster Area auf ihrer dritten LP Cut The Line (Bonzen Records, EFA) nach zehn Jahren Bandgeschichte bzw. Üben ganz beachtlich entwickelt. Demzufolge kriegt der eins mit dem Board übergebraten, der es nicht schafft, nur schnelleres als 1/16 bei den Gitarrensoli zu spielen. Daß Skatepunk eigentlich nur vom Baseballbekappten und shorttragenden Image lebt und ansonsten nur Endsiebziger Punkrock mit durchgetretenerem Gaspedal ist (die Buzzcocks waren damals schon schneller), sollte niemanden stören, der seine Freude an jugendlich verspieltem Sturm und Drang hat. Was mich wundert, ist nur, wie man sowas zehn Jahre lang machen kann, nur um sich zu freuen, schneller als das letzte Mal zu sein.

Zur Ehrenrettung der ewigen Kindsköpfe, muß natürlich gesagt werden, daß so eine Einstellung immer noch wesentlich sympathischer ist als die in Berlin sonst grassierende Frühvergreisung, und daß Desaster Area sicherlich die besten sind, die in dieser Region in dieser Preisklasse boxen. Andere wie z.B. den Rattlesnakemen fehlt nicht nur Geschwindigkeit, sondern auch der Heinz Ehrhardtsche Witz (Songtitel: »Fat & Proud«) und die einprägsame Melodie von Zeit zu Zeit, die zwar nicht im Vordergrund steht, aber zur Auflockerung und Erheiterung beiträgt und die Schmerzen im pogogeschädigten Knöchel vergessen läßt. Thomas Winkler

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