piwik no script img

Elf Gebote und eine Überdosis Harzer Pilze

■ Irrfahrten durch faustische Gedankenspiralen: Sten Nadolny beschreibt in „Er oder Ich“, wie sich bei einem erfolgreichen Unternehmensberater ganz allmählich das Selbst auflöst

Sten Nadolny kannte man bislang als eher unauffälligen Repräsentanten der älteren deutschen Schriftsteller-Mitte. Man konnte ihn zwar nicht alphabetisch, aber generationsmäßig und stilistisch ganz gut unter die Ransmayers und Rosendorfers sortieren. Sein größter Erfolg, der Seefahrer- und Entwicklungsroman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (1983), gehört längst zu den Buchregalklassikern: lesbar bis heute, weil dort im Gewand des 19. Jahrhunderts des Lesers pop-urbane Wahrnehmungsgewohnheiten fein verschoben werden. Dass Nadolny in Boomtown Berlin wohnt, hat sich wahrscheinlich auch niemand gemerkt. Und doch scheint er jetzt, inzwischen 57-jährig, ebendort angekommen. Mit seinem neuen Roman „Er oder Ich“ hat sich Nadolny in Tonfall und Konzept dermaßen verjüngt – allerdings ohne jede Berufsjugendlichkeit –, dass man sich nur heftig wundern kann, ob das denn auch mit rechten Dingen zugegangen ist.

Es beginnt schon bei der Grundidee: „Er oder Ich“ basiert auf Tagebuchnotizen. Deren Verfasser Ole Reuter kann sich nicht entscheiden, ob er nun lieber aus der therapeutisch-bekennenden Perspektive des Ich oder mit distanziert-kritischem, dafür aber gern verlogenem Blick auf Ihn schreiben soll. Weil beide Formen ihre Tücken und Vorteile haben, probiert Reuter beides.

Reuter hat gut 50 Jahre Biografie hinter sich und es letztlich zum erfolgreichen Unternehmensberater gebracht. Doch just zu Beginn seiner Aufzeichnungen steckt der „Consultant“ in einer handfesten Schaffens-, Sinn- und Körperkrise, die er mit Zynismus und Selbstmitleid konstatieren, aber nicht kurieren kann. Das Gedächtnis kränkelt, der Bauchumfang gedeiht. Also tut Reuter, was ihm vor zwanzig Jahren in einem anderen Roman Nadolnys half: Er kauft sich eine „Netzkarte“ und reist, Intuition und Zufall folgend, mit Deutscher Bahn, Handy, Laptop und „berühmt guten Schuhen“ durchs Land. Reiseziel: Finde Dich selbst. Dabei wird manisch notiert. „Mit zehn Fingern schrieb er: 'Die Eisenbahn verschafft uns einen melancholischen, gleichwohl behaglichen Blick aufs Vaterland‘ “. Und später, nach gut zwei Dritteln Buch: „Ich habe alles ordentlich aufgeschrieben, vermutlich für den irgendwann zu erwartenden Psychiater.“

Zwischen diesen beiden Notizen geschieht allerhand. Weil Reuter nicht nur Berater, sondern auch ein Intellektueller vor dem Herrn ist, kann er sein Leben nicht anders interpretieren als ein Stück Literatur- und Geistesgeschichte. Sein midlife-kriselnd motivierter Betrug an der liebenden Ehefrau, die befürchtete syphilitische Ansteckung (Aids), seine rücksichtslose Karriere im Schweinekapitalismus – um eins und eins zusammenzuzählen, braucht Reuter nicht erst den Reclam-Faust zu kaufen und „auf Anhieb die einzige Stelle“ finden, „in der Goethe von mir spricht: 'Ein Reuter kommt herangetrabt, er scheint von Geist und Mut begabt‘ “.

Schon vorher sieht er Zeichen. Ein Totenkopfschwärmer parkt auf dem ICE-Sitz erster Klasse, ein Pudel bellt, und nachts träumt Reuter Alb. Er erfindet drei unheimliche Begegnungen: Den Restaurator Griffzich mit den Henkershänden trifft er im Speisewagen; der rollerbladende „Baron de Vision“ überfällt ihn in einer Dresdner Unterführung und verrät ihm später beim Besäufnis elf finstre Gebote; und die verführerische Marlene wird ihm mitsamt einer Überdosis Harzer Pilze zum psychedelisch-sexuellen Verhängnis. Denn schließlich legt „auch der erwachsene Ole zeitlebens die magischen Gewissheiten des kleinen Jungen nicht ab: Was er phantasierte, wurde Wirklichkeit.“

Die gruselig muntere Reise, auf der Reuter genügend Zeit bleibt für allerlei Sarkasmen, für das Sammeln „legasthenischer“ Fehlleistungen und Betrachtungen der gesamtdeutschen Provinz, führt über Selbstmordversuch und kurzfristige Bekehrung in Amnesie und Anstalt. Der Arzt, ein katholischer Luhmannschüler vielleicht, stellt anerkennend fest: „Reuter ist ein sich selbst erhaltendes System, das niemals schuldig werden kann.“ Seit der Gedächtnisschwund perfekt ist und ihn damit auch sein permanent schlechtes Gewissen verlassen hat, lebt Reuter still vergnügt und hält die Klappe. Zunächst jedenfalls, denn es droht Genesung.

Aus den Reuter-Schriften zwischen Er und Ich, aus den E-Mails eines scharfsinnigen Engels und einer Erklärung des höllischen „Referats für Grundsatzangelegenheiten“ bastelt Nadolny ein Spiel mit der Urheberschaft; gibt sich als zeitblomscher „Autor“, der aber nur eine Art editorische Notiz des Herausgebers hintansetzt und fröhlich vermerkt, dass auf das sachkundige Urteil eines Germanisten verzichtet wurde. Macht nichts – „Er oder Ich“ ist eine schlaue und komische Übertragung der faustischen Gedankenspirale in den Zeitgeist der 90er. Eva Behrendt ‚/B‘Sten Nadolny: „Er oder Ich“. Piper Verlag München 1999, 240 Seiten, 38 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen