Berliner Platte : Elektronik für halbwegs musikalische Yetis, Liebhaber der Sperrigkeit und Langsam-Tänzer
Irgendwie ist heute ja alles elektronisch. Als Kategorie taugt das kaum mehr. Deshalb diesmal die Kapitulation: drei Beispiele, dreimal Elektronik, dreimal grundverschiedene Ergebnisse und kein Versuch, dem etwas Gemeinsames abzuringen.
Unter den vier Buchstaben IAMX veröffentlicht der mittlerweile nach Berlin verzogene Chris Corner, der mit seiner Band Sneaker Pimps Ende der 90er dank Triphop-Hype und einer dazu passenden, ansprechend verrauchten weiblichen Stimme zu mittelprächtiger Prominenz gelangte. Dann feuerten die Pimps die Sängerin, wollten den Glam-Rock wieder beleben und waren fortan kaum mehr gesehen. Angeblich gibt es sie noch, aber als Solist ist Corner eindeutig aktiver. Allerdings führt der Brite auf „The Alternative“, seinem zweiten Album als IAMX, entgegen des Versprechens vom Albumtitel fort, was er mit den Sneaker Pimps begann: Schwer schabende Elektronik, zu der auch ein halbwegs musikalischer Yeti das Tanzbein schwingen kann, und eine schwermütige Grundstimmung. Mitunter wird auch ganz schön mit E-Gitarren geballert und mit Industrial-Elementen kokettiert, als sollte Andrew Eldritch die aktuelle Deutungshoheit über den Düsterrock streitig gemacht werden. Das wäre zwar mal nötig, aber braucht die Welt eine zweite Ausgabe der Sisters of Mercy?
Das Bierbeben beginnt seinen zweiten Auftritt in Albumlänge mit dem Gong aus der „Tagesschau“, Gitarrengeschrammel und bewusst monotonen Beats. Damit ist der Rahmen abgesteckt, den das All-Star-Projekt auf „Alles fällt“ ausmalt: Die fünf, sonst aktiv bei Tocotronic (Bassist und Neuberliner Jan Müller), Pop Tarts, Stella, Superpunk, Allwissende Billardkugel oder Adamskostüm, suchen nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner von mindestens vier deutschen Traditionen: Das Techno-Brett, die elektronische Avantgarde, das Kunstlied und der Liedermacher finden im Bierbeben zu einem seltsam unorganischen Beieinander. Obwohl handwerklich sauber verarztet, klingt die Fusion nicht wirklich logisch. Eher ungelenk staksen Rhythmus und Reime daher, aber gerade das entwickelt dann schnell doch einen gewissen Charme. So süßlich die Frauenstimmen auch raspeln, eigentlich ist das Bierbeben ein Statement für die Sperrigkeit und gegen alle Gefälligkeit.
Tolcha derweil müssen irgendwo in den Katakomben der Hauptstadt eine gewaltige Echo-Kammer gefunden haben. Die Versöhnung von Dub und Hiphop, die das Quartett, zu deren Umfeld auch Jahcoozi oder Al-Haca gehören, auf „Gestalt“ programmiert und gemischt hat, scheint aus einer anderen Dimension zu stammen. So unterirdisch wummern die Beats, so weit sind die Klangräume gestaltet, so groß die Liebe zum rhythmischen Detail, dass Massive Attack neidisch werden könnten. Als Vorbild geben Tolcha eher Coldcut an, aber so tief und hypnotisch blubberten nicht einmal deren Bässe zu besten Zeiten. Hier gräbt jemand ganz tief in den Bäuchen und findet dort die Antithese zum Sunshine-Reggae. Tanzen kann man auch. Aber nur sehr langsam. Thomas Winkler