: Ekel, Elend, Dreck und andere Schauwerte
■ Kein Vergnügungsausflug. Wo kognitives Experiment und literarisches Spiel war, soll soziale Wirklichkeit rein. Jan Schüttes Film „Fette Welt“ nach dem Roman von Helmut Krausser
Den Deutschen sagt man nach, gründlich zu sein, besonders wenn es um den Dreck geht. Jan Schütte legt mit „Fette Welt“ einen Film über die Obdachlosigkeit in den Städten der Neunziger vor. Und natürlich hat er sich zuvor sachkundig gemacht. Er hat Obdachlosenzeitungen studiert, einschlägige Unterkünfte inspiziert, Brücken und Bahnhöfe unter die Lupe genommen. Um deutlich zu machen, daß man sich nicht an dem Schicksal der Menschen auf der Straße weiden wollte, betont er im Presseheft: „,Fette Welt‘ zu drehen war kein Vergnügungsausflug.“ Das verwundert ein bißchen, wenn man die Literaturvorlage kennt.
Denn Helmut Kraussers 1992 erschienener gleichnamiger Roman ist in gewisser Hinsicht sehr wohl ein Vergnügungsausflug, eine Sightseeing-Tour durchs Elend. Krausser versucht nicht, möglichst authentisch Realität abzubilden, und moralische Kategorien sind ihm sowieso fremd. Er versucht vielmehr Schönheit zu finden, wo sonst keine Schönheit gesehen werden darf.
Einmal sagt der Ich-Erzähler: „Mein Ding ist die Insel der Seligen nicht. Am Morgen, wenn ich aufstehe, verlange ich in der Ferne ein Hochhaus zu sehen, um zu wissen, warum ich nicht drin wohne, und dem Dreck neben mir zu danken, daß er mir einen Begriff von Schönheit gab.“ Kognitives Experiment und literarisches Spiel – zwischen diesen beiden Polen bewegte sich Krausser, der vor dem Verfassen des Romans ein halbes Jahr auf der Straße gelebt hatte. Daß im Vorspann Knut Hamsun mit der Sentenz „Wir bewegen uns doch nur durch Symbole vorwärts“ zitiert wird, macht Sinn. Denn wie der „Hunger“-Autor besetzte auch der damals 27jährige Krausser Zeichen neu. Die Welt der Junkies und der Penner, in die er den Ich- Erzähler sich aus freier Überzeugung begeben läßt, funktioniert hier als geschlossener Kosmos jenseits des Bürgerlichen. Als Impetus für Kraussers Werk diente ganz bestimmt auch der juvenile Ekel vor dem herkömmlichen Werte- und Zeichenapparat. Die Konsequenz und Kunstfertigkeit aber, mit der er die Welt umdeutete, zeugte von enormer literarischer Reife.
Der Roman „Fette Welt“ erhebt den Dreck zur eigenen ästhetetischen Dimension, der Film „Fette Welt“ benutzt ihn lediglich als Schauwert. Es ist der Blick des Sozialreporters, mit der Jan Schütte die Welt unter den Brücken und in den Abbruchhäusern einfängt. Und es ist der Wille des Autorenfilmers, in dieser Welt so was wie Freundschaft, Verrat und andere moralische Angelegenheiten zu finden. So erzählt er eine nahezu konventionelle Liebesgeschichte in einem ganz und gar unkonventionellen Umfeld. Erzählt von Hagen Trinker, der der bürgerlichen Welt abgeschworen und sich bei den Berbern eingerichtet hat; von der 15jährigen Ausreißerin Judith, die vor ihren Eltern von Berlin nach München flüchtet; von der Prostituierten Liane; von dem etwas debilen Edgar, der Schlager hört und von Acapulco träumt.
Verwitterte und verzweifelte Gestalten ganz unterschiedlicher Prägung sind das – psychologisch allerdings lassen sie sich allesamt auf den einfachsten aller Autorenfilm-Nenner bringen. Sie sind Gebeutelte, die sich eigentlich nur nach einem sehnen: der Liebe. Da bleibt den exzellenten Schauspielern – von Jürgen Vogel als Hagen bis Lars Rudolph als Edgar, von Sibylle Canonica als Liane bis zur Newcomerin Julia Filimonow als Judith – kaum Gelegenheit, ihren Figuren Persönlichkeit einzuhauchen. Sie bleiben gefangen in einem Paralleluniversum, das funktioniert wie das bürgerliche auch. Kleine Welt. Christan Buß
„Fette Welt“. Regie: Jan Schütte, mit Jürgen Vogel, Julia Filimonow u.a., Deutschland 1998, 89 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen