piwik no script img

Eiskaltes Totengericht

■ Poetisch und süffisant: Bjarne Reuters Krimi Am Abend des letzten Tages über die Rache an einem greisen Denunzianten Von Petra Schellen

Wenn dein Herz dereinst schwerer ist als die Feder der Gerechtigkeitsgöttin Maat, frisst dich das krokodilköpfige Ungeheuer, und Osiris ist nicht weiter interessiert. Und dann ist es auch egal, ob du bereust, ob du irgendeines Schicksals Ratschluss zu löschen versuchst, dich verzweifelt windest und haderst. Und ob du in der verbleibenden Zeit dein Leben Revue passieren lässt, ist im Grunde auch wurscht. Aber – der Absender der Morddrohung an den 78jährigen Leon Culman, den Protagonisten in Bjarne Reuters Am Ende des Tages, will ihm genau diese Prozedur auferlegen, will ihn scheuchen, ihn irr vor Angst taumeln sehen durch seinen letzten Tag.

Dabei ist es im Grunde nur, verdichtet, die Folter des Alterns, die Culman hier durchlebt, vom dänischen Autor sensibel in Worte gekleidet: „Alte Menschen schlafen innerlich“, sagt Culman zu seiner Tochter; „man muss sich mit der ablaufenden Zeit abfinden“ später zu sich selbst; orkanartige Panikanfälle passieren en passant. In fast archaische Bilder hüllt Reuter die Einsamkeit des Alten, der „hilflos wie ein Embryo, einsam bis ins Knochenmark, frei schwebend in einem verdunkelten Universum“ liegt, „von allen Sternen verlassen“. Ist er auch, der Alte, der fledermausartig die Sinne spitzt, um jede Abweichung von der Norm dieses Tages zu bemerken.

Rauschartig überdimensioniert nimmt er seine Umgebung wahr, mit unerträglicher Dezibel-Stärke jedes Geräusch, wittert Mordio hinter jeder Bememerkung – ein Krimi, in dem die Tätersuche ausnahmsweise mal vor dem Mord stattfindet. Und selbstverständlich durchforstetet er parallel – am liebsten würde er's vor sich selbst verbergen – sein Gedächtnis nach den im Brief erwähnten früheren „Untaten“. Tatsächlich nähert er sich auch immer mal, wortelang, seiner opportunistischen Händler- und Denunziantenexistenz während des Zweiten Weltkriegs. Den feinsten Gehirnwindungen spürt Reuter nach, nimmt haarhaarscharf das exzentrische Kreisen des Alten um den heißen Brei wahr und wechselt mit Culman blitzschnell die Perspektive, wenn es ans Eingemachte geht. „Er kam gefährlich nahe" heißt es dann lapidar inmitten eines eigentlich differenzierten Gedankengangs; wo er Unsägliches nicht einmal vor sich selbst aussprechen will, fühlt sich Culman plötzlich „von Möbeln umzingelt“. Eine höchst verfeinerte Analyse solcher Untiefen der Seele betreibt der 50jährige Reuter hier und lässt Culman doch peu a peu zum Richter seiner selbst werden, der – trotz der schwindenden Zeit – lieber erstmal Belangloses eingesteht und deutlich widerwillig auf die wirklich interessierenden Abschnitte seiner Vergangenheit blickt.

Ein gealterter Mitläufer ist Culman, ein Durchschittsgreis, der während der Nazi-Okkupation doch extemer Grausamkeiten fähig war – das von einem deutschen Soldaten vergewaltigte, von Culman denunzierte Mädchen ertränkte sich mit 24 – und der sich in einem behaglich verdrängenden Nachkriegs-Leben eingerichtet hat. Dabei präsentiert Reuter all dies, ohne moralisch aufdringlich zu werden: Voller poetischer Bilder – wenn auch im Vergleich zum bobrowski-artig archaischen Zimthaus stark zurückgenommen – ist sein Text, formuliert in pragmatisch-süffisantem Ton. Voller gutmütiger Selbstironie ist auch der Umgangston der wunderlichen Alten, die aneinander gnadenlos jede Fiber an Körper und Seele wahrnehmen, im Gespräch aber gnadenlos offen sind; außer ihrer verbleibenden Zeit haben sie ja nichts mehr zu verlieren.

Und doch scheint eine durch ihre Vergangenheit gespaltetene dänische Gesellschaft durch all diese Alterswirren hindurch, die sich in Täter und Opfer, in Opportunisten, Profiteure und nie Gerächte teilt. Durch Ohnmacht genährter Hass hat sich angestaut bei den von Ockupanten vergewaltigten Frauen und ihren Kindern angesichts des unbehelligten Alterns der Täter – ein angesichts des Kosovo-Krieges und der immer noch nicht geleisteteten finanziellen Entschädigung der koreanischen Zwangsprostituierten des Zweiten Weltkriegs höchst aktuelles Thema.

Allein bei Bjarne Reuter mündet der Hass in die Gier nach Selbstjustiz angesichts der Riesenchance, einen konkret Täter zu fassen zu bekommen. Doch der Autor hat sich, um – und sei es auch im Krimi – keine Lynchjustilz zu propagieren, elegant aus der Schlinge gezogen: Den alten Culman ereilt nämlich schlicht der Herzschlag angesichts der Rächerin. Oder hat man da doch was überlesen?

Bjarne Reuter: „Am Ende des Tages“, 300 Seiten, 39,90 Mark, Heyne-Verlag. Lesung mit Bjarne Reuter heute, 20.45 Uhr, Buchhaus Weiland, Ottenser Haupstraße 10

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen