: Eiskalter Markt
■ Ausverkauf der ehemaligen Eishockey-Macht CSFR — Personalprobleme auch im Sowjetteam absehbar
Berlin (taz) — Prag feierte 1985 seine Eishockeycracks, daß die Lärmskala an der Moldau neue Rekordwerte vermeldete. Soeben hatten die tschechoslowakischen Kufenstars etwas vollbracht, was der politischen Führung ihres Landes stets versagt blieb: ein Sieg über den Erzrivalen aus der Sowjetunion — und dies ausgerechnet im Finale der Weltmeisterschaft vor heimischen Publikum! Westliche Reporter verstiegen sich vor Begeisterung gar furchtbar in die Dramatik und glaubten gar eine „Revanche für den Prager Frühling“ ausmachen zu können.
Fakt war, daß die CSFR — nach unzähligen zweiten Plätzen hinter der übermächtigen Sowjet-„Sobarnja“ — zum sechsten Mal Weltmeister wurde. Der spontane Prager Siegestaumel von 1985 sollte in eine Phalanx von weltweiten Triumphen münden, waren sich Trainer, Journalisten und Spieler einig. Bei der aktuellen WM in Finnland jedoch ist die Brillianz von einst kaum noch zu erahnen. Nur fünf Jahre nach dem Prager Favoritensturz rangieren die Tschechen und Slowaken nach der Vorrunde auf einem für sie maßlos enttäuschenden sechsten Platz. Sogar die Collegeboys aus den Vereinigten Staaten zeigten den Mitteleuropäern die kalte Kufe.
Die Erklärung für den Einbruch ist eine mittlerweile in Osteuropa gängige: „Die Veränderung in der tschechoslowakischen Gesellschaft nach dem November 1989 spiegeln sich auch im Eishockey wieder“, so der Sportjournalist Ladislaw Valek. Denn natürlich nutzen die Eishockeystars die neuen Reisefreiheit für profitable Sololäufe auf internationalem Eis. Während Anfang der siebziger Jahre die USA-Flucht der Stasny- Brüder noch für diplomatische Verwicklungen sorgte, sagten die achtziger Stars beim Abschied nur noch leise Servus. Fast sechzig namhafte Leistungsträger zog es an westliche Fleischtöpfe. So wechselten die Ausnahmespieler Hasek, Ruzika, Reichel, Kucera und Baca nach Kanada, der Bundesligist EHC Freiburg verpflichtete gar eine ganze slowakische Auswahl im Dutzend billiger und heftete seinen Importen windige deutsche Stammbäume ans Trikot.
Die Gründe: „Selbst das Gehalt eines Spielers in Italiens zweiter Liga ist weitaus lukrativer als daheim“, so Valek. So steht in Finnland nur eine WM-Notlösung aus Praha, Brno, Pizen, Litvinov, Kladno oder Bratislava auf dem Spielfeld, die erst jetzt — zu spät allerdings — Verstärkung aus Nordamerika erhielt. Von jenen Kollegen der Profiklubs, die in der dortigen Meisterschaft um den Stanley- Cup frühzeitig ausgeschieden sind.
Der personelle Aderlaß der einstigen Supermannschaft ist kaum noch zu verkraften, zumal die CSFR als südlichste aller Eishockey-Großmächte auch klimatische Nachteile hat. Zudem zieht mehr und mehr der Fußball — die Nummer eins im Landessport — manch talentierten Eishockeyspieler in seinen Bann.
Die Nagelprobe für die CSFR- Eisheiligen wir 1992 kommen. Wenn, wie im Jubeljahr 1985, die Weltmeisterschaft im schnellsten Mannschaftsspiel der Welt erneut vor heimischem Publikum ausgetragen wird. Dort wird sich entscheiden, ob sie Spitze bleiben können oder ins Mittelmaß abdrifften werden. Die Meßlatte des Publikums hängt jedenfalls trotz des bisher mageren Abschneidens in Finnland nicht tiefer. Valek: „Die Erinnerungen an die hervorragenden Leistungen der Spieler in Prag 1985 sind in der Tschechoslowakei unvergessen.“
Doch auch bei den Favoriten aus den UdSSR sieht zumindest in den Augen des ehemaligen und weltbesten Trainers Anatoli Tarassow nicht alles rosig aus. „Das sowjetische Eishockey hat sich nicht entwickelt. Die Zukunft ist finster“, orakelt der 72jährige. Daß die UdSSR bei der WM bislang kein Match verlor, liege einzig an der noch schwächeren Konkurrenz, moserte er nach dem 6:4-Sieg gegen die USA im ersten Finalrundenduell. „Unsere Spieler sind im Spiel ohne Puck mächtig faul. Überdurchschnittliche Einzelkönner wie derzeit noch ein Fetisow oder Makarow sind nicht in Sicht. Packen sie ihre Sachen, wird's schwer.“ Jürgen Schulz
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