: Einübung ins Fremde
Susan Sontags Roman „In Amerika“ schildert detailgenau und unverklärt, wie eine polnische Schauspielerin zur größten Bühnendiva der USA wurde
von HARALD FRICKE
Auffällig groß ist die Nase, das Kinn fliehend. Eine Schönheit war die Schauspielerin Helena Modrzejewska keineswegs, das sieht man auf Fotos, die zum Höhepunkt ihrer Laufbahn gemacht wurden, in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Für das Cover der amerikanischen Paperback-Ausgabe von Susan Sontags „In Amerika“ wurde indessen eine anonyme Rückenansicht ausgewählt, die deutsche Fassung zeigt triste Eisenbahnschienen. Nur nicht der realen Person zu nahe kommen, mag man sich in beiden Verlagen gedacht haben. Schließlich hat Sontag ihr Buch nicht „eine Biografie“, sondern „ein Roman“ untertitelt; sie hat die polnische Aktrice, die nach der Übersiedelung zur berühmtesten Schauspielerin Amerikas aufstieg, in Maryna Załęzowska umbenannt, und ihrem Liebhaber Henryk Sienkiewicz, der „Quo Vadis“ schrieb, den Namen Ryszard gegeben.
Ansonsten allerdings lässt sich „In Amerika“ ganz auf die wahren Lebensgeschichten ein. Offenbar war da einiges an Bewunderung im Spiel – und die eigene Herkunft Sontags, deren Großeltern aus Polen stammen. Das Schicksal der emigrierten Schauspielerin, die zwischen zwei Welten existieren muss, ist auch Selbstbefragung in Sachen kultureller Identität, oder besser: Vermischung. 1876 gibt Maryna das Theater in Warschau auf, um mit Freunden und Familie nach Kalifornien auszuwandern. Der Neubeginn soll mehr sein als bloßer Ortswechsel: Die Gruppe gründet eine landwirtschaftliche Kommune und baut kollektiv Wein an. Bald aber entwickelt sich das Leben in der Natur zur Fronarbeit, die zudem kaum Erträge bringt. Die Ernte misslingt, das Melken der Kühe gerät den Laienbauern „zur Tierquälerei“.
Erst im Bruch mit den Idealen kommt die Gemeinschaft wirklich in Amerika an. Nicht ohne Ironie schaut Sontag der Anpassung zu, da Kinder plötzlich nicht länger Piotr, sondern Peter heißen wollen und echte Mord-Storys den heimischen Märchen vorziehen. Auch für Maryna führt die Assimilation über die Einübung ins Fremde. Nach dem Scheitern der Kommune will sie wieder zum Theater, wo sie trotz mühenvollem Training an der Sprache den harten Akzent einer exotischen Diva behält. Ein rollendes rrr und gedehnte Vokale bleiben als Zeichen ihrer polnischen Wurzeln und bestätigen zugleich die Unumkehrbarkeit der Entwurzelung. Am Ende reist sie erfolgreich zwar, doch ohne festen Wohnsitz rastlos im Eisenbahnwaggon durchs Land. Immer ist es Zeit, weiterzuziehen, das ist „der amerikanischste aller Gründe“, wie Maryna einmal in Erinnerung an Ryszard sagt, von dem sie sich wegen ihrer Karriere getrennt hat. Irgendwann wird auch der Ehemann fortgehen, nachdem er ihr gebeichtet hat: „Mein Amerika bist du.“
Was aber bringt eine Autorin, die mit Essays über Camp, Aids oder Fotografie bekannt wurde, auf den Pfad einer romantisch gefärbten Literatur? Zumal Sontag weiter als engagierte Intellektuelle gilt, die seit dem 11. September unerbittlich gegen die militärische Linie von Bush wettert und Henry Kissinger in einem Zeit-Interview mit Milošević verglichen hat. Und während sie im gleichen Gespräch wütend darauf besteht, dass man sie allein als Schriftstellerin bewerten solle, hat sie schon im Prolog von „In Amerika“ die politische Gegenwart im Blick. Dann ist vom Leben im „belagerten Sarajevo“ die Rede, von einer „tödlichen Zunahme“ an Nationalismen und davon, das „in meiner Zeit“ moralische Kategorien, Wörter wie „zivilisiert“ und „barbarisch“ nurmehr „ein elegisches, tristes Dasein fristen“.
Kein Zweifel, dass Sontag sich auch im Roman alle Optionen offenhält. Sie bringt Amerikas Religionseifer und Europas künstlerischen Eigensinn ins Gespräch, grübelt über die Psychologie des Dramas und schafft mit ihren Analysen der gesellschaftlichen Problemzonen von einst ungeheure Freiräume für die Figuren. Marynas emanzipierte Haltung ist nicht Ergebnis ihrer liberalen Zeit, sondern Abbild des Feminimus, den Sontag seit jeher propagiert. Ähnlich ist es um Marynas Mann bestellt, der in Amerika seine Homosexualität entdeckt.
Angetriggert von der Gegenwart geht die Strategie auf. Indem Sontag die reine Nacherzählung einer abgeschlossenen Vergangenheit meidet, schlägt der Roman nie in monumentale Historienmalerei um. Die Saga von gestern dient der Überprüfung des amerikanischen Jetzt-Zustands. Migration, Integration, Ortlosigkeit – das ist neben allem „pursuit of happiness“ die unendliche Geschichte der USA. Vermutlich hat James Wood in der Zeitschrift The Nation das Buch deshalb als hohe Kunst einer postmodernen Literatur des „present-intimate“ gefeiert.
Entsprechend ist „In Amerika“ bei aller Fiktionalisierung durch und durch mit historischem Material abgefedert. Die Recherchen stimmen, auch in den komplizierten Verflechtungen damaliger Zeitgeschichte. Der gescheiterte Aufstand gegen die russischen Besatzer von 1862 zwang tatsächlich große Teile der polnischen Kulturelite ins Exil; und die Begeisterung für Fourier’sche Sozialutopien brachte Europäer nach Kalifornien, um dort Kommunen zu gründen wie etwa in dem von Sontag geschilderten Anaheim, dass sich im Buch mit der Präzision eines Stadtplans ausbreitet. Sogar das Telefon wurde auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876 vorgestellt. Aus dieser Vielfalt an Details ergibt sich auch in der deutschen Übersetzung von Eike Schönfeld ein erstaunlich semi-dokumentarischer Roman, der noch in der größten Tragik die Spurensuche quer durch die Bibliotheken nie leugnet: Selbst der Monolog des verbitterten Shakespeare-Mimen Edwin Booth, dem Maryna begegnet, ist von Fakten grundiert – sein Bruder erschoss 1865 Abraham Lincoln. Im Theater.
Susan Sontag: „In Amerika“. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Hanser Verlag München 2002, 476 S., 24,90 €
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