Einrichtungen der Behindertenhilfe: Mehr Gewaltschutz gefordert
Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe bleibt ein Problem. Der Bundesbehindertenbeauftragte drängt die Regierung zu entschiedenem Handeln.
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, legte am Montag nun gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte Handlungsempfehlungen zum Gewaltschutz vor, die „der Bundesregierung unter die Arme greifen“ sollen.
Rund 200.000 Menschen mit Behinderung leben in stationären Einrichtungen, etwa 330.000 arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. In einem ersten Staatenbericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention stufte der zuständige UN-Ausschuss deren Lage bereits 2015 als besorgniserregend ein und forderte schnelle Konsequenzen aus der starken Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderung.
Die Dimension der Gewalt ist unbekannt
Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland seit 2009 eigentlich zu einem nachhaltigen Strukturwandel und zur schrittweisen Abschaffung von Sonderstrukturen verpflichtet. Tatsächlich gibt es nicht einmal einen genauen Überblick über die Anzahl der Sondereinrichtungen, geschweige denn wie sich deren Zahl in den vergangenen Jahren verändert hat. Solange es noch Sondereinrichtungen fürs Wohnen und Arbeiten gibt, ist Deutschland jedenfalls verpflichtet, die dort Wohnenden und Beschäftigten vor Gewalt, Missbrauch, Ausbeutung und Eingriffen in ihre persönliche Freiheit zu schützen.
Die von Deutschland unterzeichnete Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt) enthält darüber hinaus konkrete Vorgaben an die staatlichen Akteure unter anderem zur Prävention, zum Schutz und zur Strafverfolgung von geschlechtsspezifischer Gewalt, ausdrücklich auch für Frauen und Mädchen mit Behinderungen.
Die genauen Dimensionen der Gewalt sind unbekannt, in den Kriminalstatistiken wird bislang nicht erfasst, ob sich gemeldete Gewalttaten in Einrichtungen ereigneten. 2014 machte allerdings eine Studie deutlich, dass in Einrichtungen lebende Frauen mit Behinderung in großem Ausmaß von Demütigungen, körperlicher Gewalt und sexuellen Übergriffen betroffen sind.
Nach den Morden im Oberlinhaus initiierte der Verein abilitywatch jüngst ein Rechercheprojekt, bei dem für die vergangenen 10 Jahre bislang 41 weitere Fälle von Gewalt mit 180 Betroffenen in 37 stationären Einrichtungen zusammengetragen wurden. Die Ergebnisse einer von verschiedenen Bundesministerien beauftragten breiten Umfrage zu Gewalterfahrungen von Bewohner*innen werden erst für 2024 erwartet.
Die strukturellen Probleme, die die Gewalt in Einrichtungen begünstigen, sind indes bekannt. Man müsse nicht auf genaue Zahlen warten, um zu handeln, sagt auch Behindertenbeauftragter Dusel. Es sind die fehlende Partizipation der Bewohner*innen und Werkstattbeschäftigten, deren hohe Abhängigkeit von Pflege- und Betreuungskräften, der Personalmangel in den Einrichtungen und die Abschottung vom Rest der Welt, die Übergriffe möglich machen und oft unsichtbar bleiben lassen.
Einrichtungen müssen Gewaltschutzkonzepte vorlegen
Tatsächlich wurden bereits im vergangenen Jahr Weichen für einen besseren Gewaltschutz gestellt. Seit 2021 sind die Einrichtungen bundesweit gesetzlich verpflichtet, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Doch ohne Mindestanforderungen und Sanktionen bleibt die Norm ein stumpfes Schwert. Es sei unbekannt, wie viele Träger tatsächlich geeignete Konzepte erarbeitet haben und wie viele dieser Konzepte wirkungsvoll umgesetzt werden, sagt Britta Schlegel, Leiterin der Monitoringstelle für die UN-Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte. In ihren Handlungsempfehlungen fordern Schlegel und Dusel deshalb eine Nachschärfung des Gesetzes.
Nötig seien die Verankerung von Mindeststandards für die Konzepte und die Einrichtung einer unabhängigen Zertifizierungsstelle. Verträge mit Trägern von Einrichtungen dürften nur noch bei wirksamen Gewaltschutzkonzepten abgeschlossen werden – bisher ist das nur in einzelnen Bundesländern verbindlich geregelt. Und natürlich – das hatte der UN-Ausschuss ebenfalls 2015 angemahnt – brauche es endlich eine wirksame und unabhängige Kontrolle der Einrichtungen in Bezug auf deren Gewaltschutz.
Für den Schutz von Bewohner*innen und Werkstattbeschäftigten sei außerdem deren Partizipation und Empowerment nötig, heißt es in den Handlungsempfehlungen. Das bedeutet nicht zuletzt, Menschen je nach ihren Kommunikationsmöglichkeiten Zugang zu Informationen und Beschwerdewegen zu ermöglichen.
Auch das kostet Zeit, Sensibilisierung und Schulung des Fachpersonals, in vielen Einrichtungen ist ein Wandel der Hierarchien zwischen Bewohner*innen und Pflegekräften notwendig. In den Werkstätten habe sich da einiges getan in den letzten Jahren mit der Etablierung von Werkstatträten, betont Dusel. In den Wohneinrichtungen bestehe aber erheblicher Nachholbedarf.
Kaum Interaktion der Einrichtungen nach außen
Und dann gibt es noch den Mechanismus: Was in den Einrichtungen passiert, bleibt in den Einrichtungen. Mit den Sozialräumen um die Häuser herum gibt es häufig kaum Interaktion, kritisiert Dusel. Etablierte Hilfesysteme wie Beratungsstellen, Frauenhäuser, Gemeinden und auch die Polizei müssten sich verantwortlicher fühlen und stärker eingebunden werden. Auch regelmäßige Besuche von unabhängigen, interdisziplinären Besuchsgruppen – vergleichbar zur stationären Psychiatrie – können gewaltbegünstigende Strukturen aufdecken.
Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung verpflichtet, „verbindliche Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt“ voranzutreiben. Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr: Im kommenden Jahr soll Deutschland erneut vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung geprüft und bewertet werden. „Dann muss sich die Bundesregierung rechtfertigen, ob ihre Maßnahmen gegen Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe ausreichend sind“, sagt Dusel.
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