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Einmal Spielwiese und zurück

■ Wenn der Synthie-Roboter im Metal-Kugelhagel stirbt: „Do Make Say Think“ aus Kanada verwandeln heute den Schlachthof in ein instrumentales Kopfkino

Heiligabend 1999, nach der Bescherung. Der 15-jährige Dennis aus Steilshoop fällt seiner Mutter unterm Tannenbaum in die Arme. „Super, Mammi, die neue Fridge! Und der essentielle Tortoise-Erstling! Und wie hast du geahnt, dass ich mir das Tarwater-Remix-Album wünsche?“ – „Ach, Liebling“, antwortet Mutter mit Tränen in den Augen, „ich weiß doch, wie sehr du auf ästhetisch versierte Klangmalerei stehst.“

Traum eines jeden Musikjournalisten? Denkbar, denn ohne dessen Erfüllung ließe sich weiterhin behaupten, dass sich die Kritikerbranche mit der Kreation von Postrock eine Spielwiese geschaffen hat, auf der endlos gefachsimpelt und intellektualisiert werden darf, ohne dass einem der gemeine Konsument ins Wort fallen kann.

Bands wie zuletzt die Glasgower Mogwai und Godspeed You Black Emperor! aus Kanada versuchen jedoch, den sozial vereinsamten, sterilen Laboren des Postrock zu entfliehen und sich die verloren gegangene Publikumsnähe zurückzuergattern. Während Mogwai den „Rock“ nach dem „Post“ gerne besonders dick auftragen und ihren Drogenfanatismus öffentlich und auf exzessive Weise zelebrieren, entschieden sich Godspeed You Black Emperor! für den Abschied vom intellektuellen Sound in eine andere Richtung: Der Kontakt mit den Medien wird komplett gemieden, und man versteckt sich hinter einem Schwall mystischer Symbolik und apokalyptischen Geschwafels.

Nun hat das kleine Heimatlabel jener Band aus Toronto eine zweite Formation auf den Markt geschickt. Wieder Postrock. Wieder ein vielköpfiges Musikerkollektiv. Wieder ein komplizierter Name: Do Make Say Think. Da wäre es doch eigentlich so einfach zu sagen – oder zu denken –, dass dies nun wirklich ein für jeden Nicht-Musikwissenschaftler absolut bedeutungsloses Ereignis sei. Denkste. Das Album zieht sich klangmalerisch in eine Welt zurück, die keiner musikhistorischen Vorgeschichte bedarf, in der Fachbegriffe wie Ambient, Dub und Progrock ihre Bedeutung verlieren, ineinander verschmelzen und etwas Neues bilden. Undefinierbar, aber süß. „Serious ear candy“, schwärmt man bei ihrer Plattenfirma Constellation.

So süß, dass sich selbst Dennis am Gabentisch darüber freuen würde, denn das instrumentale Kopfkino nimmt den Hörer mit auf manch abenteuerliche Reise: Hier fährt ein Laster über den kanadischen Soundhighway, da stirbt ein Synthie-Roboter im plötzlichen Heavy-Metal-Kugelhagel, und überall bahnen sich sanfte Gitarren-Passagen so plastisch ihren Weg durch den Postrock-Dschungel, als wären es Legosteine. Doch also eine Spielwiese, aber nicht nur für Musikjournalisten.

Philip Oltermann

heute, 20 Uhr, Schlachthof

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