Eine knappe Mehrheit der Polen hat keine Angst vor dem „Geist der Erben der Diktatur“. 51,4 Prozent der Stimmen entfielen bei der Stichwahl zum Präsidentenamt auf Aleksander Kwaśniewski , dem Chef der Demokratischen Linksallianz. Weder die katholische Kirche noch die legendäre Solidarność konnten Lech Walesas Niederlage abwenden Aus Warschau Gabriele Lesser

Polens Zukunft beginnt mit Schlußstrich

Die Leute im Supermarkt an der Warschauer Tamkastraße sehen verkatert aus und haben schlechte Laune. Ein älterer, mißmutig dreinblickender Mann, der an der Kasse Milch und Quark bezahlt, dreht sich plötzlich um und faucht die Leute in der hinter ihm stehenden Schlange an: „Verräter! Die Bauern und die Jungen! Die haben uns verraten.“ Einige nicken. „Sicher ist die Wahl ungültig“, flüstert eine Frau im Verschwörerton. „Die Kommunisten haben immer die Wahlen gefälscht!“ Aus der Schlange löst sich eine blonde Schönheit: „Ihr seid doch dumm. Da ärgert ihr euch jahrelang über Walesa, und wenn es zur Wahl geht, wo macht ihr das Kreuzchen? Bei Walesa!“

Die junge Frau redet sich in Rage: „Euch interessiert es doch überhaupt nicht, daß wir keine Arbeit haben. Ihr seht nur eure großartige Solidarność. Aber das ist schon fast zehn Jahre her.“ Der alte Mann verzieht das Gesicht zu einer Grimasse: „Dreck! Alles Dreck! Ich habe im Gefängnis gesessen, und ich habe jahrelang keine Arbeit gehabt. Und wofür das alles?“ Die Stimme schlägt um, erstirbt, die Kunden in der Schlange gucken die Regale entlang. Die junge Frau geht an die Kasse und sagt provozierend ruhig: „Für uns. Wir sind eure Zukunft.“

Die Polen haben am 19. November 1995 einen neuen Präsidenten gewählt. Nach den bisher vorliegenden Ergebnissen hat Lech Walesa, der legendäre Freiheitsheld der Polen und Arbeiterführer der legendären Gewerkschaft Solidarność, die Wahl knapp verloren. Sieger ist der Herausforderer des noch amtierenden Präsidenten, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Polens, der 41jährige Aleksander Kwaśniewski.

Das Ergebnis – mit 51,4 zu 48,6 Prozent denkbar knapp – spaltet die Gesellschaft in zwei große Gruppen. Das zumindest meinen fast alle Kommentatoren der führenden Tageszeitungen in Polen. Sie befürchten fast durchgehend, daß es durch die Wahl zu einer stärkeren Polarisierung innerhalb der Gesellschaft kommen könnte: die Jungen gegen die Alten, die Arbeiter und Arbeitslosen gegen die Unternehmer, die Beamten und höheren Staatsfunktionäre gegen die Angestellten. Der eigentlich so positiv klingende Slogan Kwaśniewskis, „Wählen wir die Zukunft!“, grenze die Menschen aus, die ein gutes Gedächtnis besäßen, so die einhellige Meinung. Durch die Monopolisierung der Macht in den Händen der exkommunistischen Sozialdemokratischen Partei könne es sogar wieder zu der alten Frontstellung des „My“ und „Oni“ kommen. „My“ – das waren „wir“, das war die Gesellschaft in der Solidarność-Zeit, die sich gegen die regierende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei aufbäumte; „Oni“ hingegen waren „die da oben“, mit denen die Gesellschaft nichts zu tun haben wollte. Mit der Wahl Kwaśniewskis habe ein Teil der polnischen Bevölkerung die Volksrepublik nachträglich anerkannt oder deren Verfehlungen ad acta gelegt. Sie seien die ständige Streiterei über die bessere Moral der einen oder anderen Seite leid und wollten den „Schlußstrich“ ziehen.

Das hatte auch bereits Tadeusz Mazowiecki, der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens, im Jahre 1989 gefordert. Doch Mazowiecki ging es nicht darum, alle Vergehen ungesühnt zu lassen. Er befürwortete durchaus eine Auseinandersetzung über die Vergangenheit, aber nicht in der Unerbittlichkeit, wie sie beispielsweise in Deutschland geführt wurde.

Die Wahlnacht selbst hätte Hitchcock nicht spannender inszenieren können. Jede halbe Stunde gab der Wahlkampfleiter die neuesten Hochrechnungen und Prognosen bekannt. Bis 22 Uhr sah es so aus, als werde Walesa, wie es eigentlich fast alle erwartet hatten, als Sieger aus der Wahl hervorgehen. Im Büro seines Wahlstabes herrschte eine ausgelassene Stimmung. Doch mit jeder weiteren Bekanntgabe verlor Walesa Zehntel Prozentpunkte. Seine Wähler waren fast alle morgens zur Urne gegangen. Die Kwaśniewskis hingegen am späten Nachmittag oder erst am Abend.

Im Grunde schon immer ein Sozialdemokrat

Als um 22 Uhr die ersten Hochrechnungen der offiziellen Stimmauszählung über den Bildschirm liefen, wurde klar, daß Walesa aller Wahrscheinlichkeit nach verlieren würde. Walesa trat ganz kurz vor die Kamera, verlas eine vorbereitete Dankesrede und zeigte sich dann den ganzen Abend nicht mehr. Auch im Wahlstudio des ersten Programms schlug die Stimmung schlagartig um. Hatten die Gäste, allesamt Wissenschaftler, Journalisten und Politiker, in den ersten beiden Stunden Walesa geradezu routinemäßig kritisiert, überwogen im zweiten Teil der Wahlnacht die fragenden und besorgten Stimmen.

Aleksander Kwaśniewski, dem es gelang, sich das Image eines „netten jungen Manns von nebenan“ als auch das eines weltoffenen, smarten und eleganten Europäers zu geben, plädierte in all seinen öffentlichen Auftritten für den EU- und Nato-Beitritt Polens. Der Wirtschaftsexperte hält viel von der parlamentarischen Demokratie, will die Staatsbetriebe Polens privatisieren und dem Auslandskapital den Zugang erleichtern.

Der 41jährige Arztsohn Kwaśniewski hat immer wieder insbesondere die jungen Menschen angesprochen und ihnen das Recht auf eine gute Schulbildung und auf Arbeit versichert. Politisch beruft sich Kwaśniewski auf den spanischen Ministerpräsidenten Felipe González. Er selbst, so versichert Kwaśniewski, sei im Grunde seines Herzens schon immer ein Sozialdemokrat gewesen. Die Vergangenheit – Kwaśniewski hatte in der Zeit des Kriegsrechts (1981–1983) innerhalb der kommunistischen Partei Karriere gemacht – liege nun schon fünf Jahre zurück. Seit 1990 gebe es die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei nicht mehr, und er habe sich seither als guter Sozialdemokrat profiliert, der auch im Ausland als wichtiger Gesprächspartner ernstgenommen werde.

Der „Sympathie- und Hoffnungsträger“, wie ihn die polnische Presse in ihrer Berichterstattung zunächst feierte, hatte im Lauf der Wahlkampagne immer mehr Kratzer bekommen. Zunächst kam heraus, daß er die für alle Abgeordneten obligatorische Vermögenserklärung falsch ausgefüllt hatte. Dann erfuhren die Polen, daß Kwaśniewski gar keine „höhere Bildung“ besaß, wie er immer wieder angegeben hatte. Er hatte als „abgebrochener Student“ die Universität in Danzig verlassen müssen. „Ich habe keine Zeit, die Magisterarbeit zu schreiben, ich muß Karriere machen“, soll Kwaśniewski dem damaligen Universitätsdekan gesagt haben.