: Eine günstige Zeit
In den 70er Jahren galt Hamburg als beispielhaft für seinen Justizvollzug. Doch die nachfolgenden Justizsenatoren, unterstützt von einer sensationslüsternen Presse, haben viele Reformen zurückgenommen. Ein Rückblick auf eine Zeit, als man an die Veränderbarkeit des Menschen glaubte
VON FRIEDERIKE GRÄFF
Es hat eine Zeit gegeben, als die Hamburger Justizvollzugsanstalten als vorbildlich galten. Damals, in den 80er Jahren, kamen Fachleute aus anderen Bundesländern, um sich anzusehen, wie Gefängnisse aussahen, die den Gefangenen ihre Würde ließen. Sie glaubten, dass Resozialisierung nicht nur den Tätern hilft, sondern auch der Allgemeinheit, indem neue Opfer vermieden werden. Heute soll der Hamburger Justizvollzug die Allgemeinheit schützen, indem er die Straffälligen von ihr fernhält.
Wenn man verstehen will, wie es dazu kommen konnte, sollte man mit den Reformern sprechen. Mit denen, die sich jetzt fragen, was von ihrer Arbeit geblieben ist. Natürlich sollte man auch mit denen sprechen, die das neue Modell vertreten, den so genannten Chancenvollzug. Doch die Sprecherin der Justizbehörde sagt, dass im Wahlkampf leider kein Ansprechpartner aus dem Justizvollzug zur Verfügung stehe.
Eva Rühmkorf ist eine pragmatische Frau, auch eine kluge. Sie will sich – zumindest nicht direkt – zum heutigen Justizvollzug äußern, schließlich ist es dreißig Jahre her, seitdem sie die Jugendanstalt Vierlande geleitet hat. Danach hat sie in der Politik Karriere gemacht, war schließlich SPD-Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, aber noch als Ministerin sind ihr ehemalige Häftlinge über den Weg gelaufen wie jener „Pico“, der zu ihr sagte: „Sie haben es ja weit weit gebracht.“ „Sie ja auch“, hat sie geantwortet. „Sagen Sie doch Du“, meinte er da.
Das klingt nach Idylle, es würde zu dem alten Bauernhof passen, den sie mit ihrem Mann im Hamburger Umland gekauft hat, aber Eva Rühmkorf stellt das schnell richtig: „Es gab nicht diese absolute Verrohung, nicht diese machomäßige Gewaltbereitschaft bestimmter Migrantengruppen“, wie sie etwa der Kriminologe Christian Pfeiffer heute beschreibe.
Was es jedoch gab und was sie nicht beschönigen will, war das, was hinter verschlossenen Türen stattfand: „Übergriffe beim Duschen nach dem Sport, auf Ausländer und Schwache, auch sexuelle Gewalt.“ Rühmkorf hat daraufhin den Sozialwissenschaftler Günter Amendt gebeten, eine Sprechstunde für die Jugendlichen und Beamten zum Thema Sex zwischen Männern abzuhalten, aber niemand traute sich dorthin. Und auch zu den Anonymen Alkoholikern wollte niemand gehen: „So werden wir nie wie diese alten Penner“, sagten sie, während sie selbst auf dem besten Wege dazu waren.
Die Geschichte mit der Sprechstunde klingt ein bisschen komisch, aber sie ist typisch für die Überzeugung der damaligen Reformer: Dass der Mensch durch veränderte Umweltbedingungen veränderbar sei. „Vielleicht waren wir da etwas optimistischer als die Bildungsforscher heute.“ Aber die Frage, ob sie sich vom Aufenthalt in Vierlande tatsächlich einen positive Veränderung bei den Häftlingen versprochen hat, beantwortet Eva Rühmkorf zurückhaltend: „Ich wollte, dass sie nicht schlechter werden.“
Vielleicht muss man wieder jemanden sagen hören: „Dieses Ungeheuerliche, einen Menschen einzusperren“, um zu ermessen, wie schwierig die Arbeit in einer Justizvollzugsanstalt ist. Eva Rühmkorf muss an Veränderung geglaubt haben, sonst hätte sie keinen Vollzugsplan mit jedem einzelnen Jugendlichen aufgestellt. Der folgte dem Prinzip fordern und fördern und wenig macht sie so aggressiv wie der Begriff „Kurhotelvollzug“. Es gibt viele dieser Wortschöpfungen, „Kuschelpädagoge“ gehört auch dazu, was impliziert, dass der Pädagoge Angst vor dem Jugendlichen hat, obwohl aus dem restriktiven Vollzug doch viel mehr Furcht spricht.
Herausforderung sein
„Wir haben es nie als Geschenk empfunden, sondern als Herausforderung“, sagt Rühmkorf. „Manche sagten: ,Lasst mich doch in Ruhe, das sitz ich auf einer Arschbacke ab.‘“ Es ist viel anstrengender, immer wieder gefordert zu werden. Härte, so glaubt sie, schreckt Bürgerkinder ab – aber nicht die Klientel, die sie damals in Vierlanden betreute. Härte erwartete auch die Presse, zumindest weite Teile davon. Die meisten Hamburger Justizsenatoren, sagt Rühmkorf, hätten ihr Amt aufgeben müssen, weil ihnen das Hamburger Abendblatt vorrechnete, wie viele Freigänger nicht zurückkamen.
Freigang und andere Lockungen, das sind noch immer die Themen, mit denen Politiker und Zeitungen Blumentöpfe gewinnen können. Mittlerweile ist das Moritz-Liepmann-Haus, das Häftlinge auf ihre Entlassung vorbereitete und das Eva Rühmkorf mit konzipierte, geschlossen worden. Freigängerresozialisation könne man auch aus der Anstalt heraus betreiben, so wurde argumentiert. Rühmkorf findet das fahrlässig: „Es ist die heikelste Sollbruchstelle.“ Und dann, zum Abschied, hat sie noch eine Empfehlung: „Besuchen Sie Gerhard Rehn.“
Auch Gerhard Rehn wohnt draußen vor Hamburg, sein Arbeitszimmer steht Jahre nach der Pensionierung voller Bücher zum Thema Justizvollzug. Wenn von den guten Zeiten in Hamburgs Gefängnisführung die Rede ist, kommen die Leute schnell auf ihn und die von ihm bis 1994 geleitete sozialtherapeutische Anstalt in Altengamme zu sprechen. Rehn ist ein zurückhaltender Mann mit schmalem, feinen Gesicht und es muss viel Zorn und wohl auch Verzweiflung in ihm gewesen sein, als er dem damaligen Justizsenator Roger Kusch in einem Brief schrieb: „Was hat man Ihnen an Ihrem Leben angetan, dass Sie so handeln müssen und damit ein bleibendes Zerstörungswerk am Hamburger Strafvollzug anrichten?“ Er hat keine Antwort bekommen; Altengamme wurde geschlossen, trotz vieler Proteste, die aus ganz Deutschland kamen, kaum aber aus Hamburg.
Der heutige Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU) hat in einem Interview gesagt, dass ihm niemand habe schlüssig erklären können, warum die Vorbereitung auf die Entlassung nicht auf dem Gelände der regulären Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel stattfinden könne. Und als er bei einer Diskussion auf Gerhard Rehn traf, warf er ihm vor, nur die Schließung der eigenen Anstalt nicht hinnehmen zu wollen.
Doch Gerhard Rehn kann sehr präzise darlegen, was ihn an der gegenwärtig praktizierten Sozialtherapie stört: Dass die Häftlinge zu früh eingeschlossen werden, dass sie relativ wenig Besuch haben dürfen, dass die Gruppen mit 25 statt wie in Altengamme zwölf Menschen zu groß sind. Dass, neben anderen Gepflogenheiten des geschlossenen Vollzugs, die Beamten uniformiert sind, dass die Gruppen gemeinsam mit den anderen Gefangenen in den Werkstätten arbeiten und ihre Angelegenheiten so nicht unter ihnen blieben.
Eigentlich sagt Gerhard Rehn etwas sehr Einfaches: Dass man auf die Entlassung nicht ohne Haftlockerungen vorbereiten kann und dass das notwendigerweise ein Risiko in sich birgt. Früher gab es bis zu 30 Prozent Freigänger, heute sollen 10 Prozent genügen. Der Senat verweist gern auf die Statistiken der letzten Jahre, wonach die Zahl der nicht zurückgekehrten Freigänger deutlich zurückgegangen ist. „Das ist kein Wunder“, sagt Gerhard Rehn, „wenn kaum noch Freigang gewährt wird.“
Keine Verklärung
Aber auch Gerhard Rehn verklärt die Reformzeit nicht. Es gab zu wenig Personal, um die Betreuung zu bieten, die er für richtig hielt. Die Häftlinge waren anstrengend, sie liefen in sein Büro und forderten, so formuliert er es, „für die Körperpflege die tollsten Dinge“. Aber er konnte Neues wagen: bundesweit zum ersten Mal Männer und Frauen gemeinsam unterbringen, um die gewaltschwangere Atmosphäre reiner Männeranstalten aufzubrechen.
Interessanterweise sind es vielfach noch die selben Menschen, die im Hamburger Justizvollzug arbeiten und Gerhard Rehn hat keine einfache Antwort dafür, warum sie ihre Meinung darüber, wie man mit Häftlingen umgehen solle, geändert haben. Er glaubt, dass es Politikern wie Kusch und Lüdemann aufgrund ihrer eindimensionalen Karriere schlicht am Bewusstsein für die quasi existenzielle Gefährdung ihrer selbst und jedes anderen fehle. Aber warum der Mittelbau jetzt das Konzept des Chancenvollzugs vertritt, das tatsächlich aber wenig Chancen biete, das kann Rehn nicht erklären.
In Altengamme übt die Polizei jetzt Nahkampfeinsätze. Rehn besitzt ein Foto, auf dem die eingetretenen Türen zu sehen sind. Aber er ist zäh, auch in der Hoffnung. Ein neuer Senat könnte wieder eine eigenständige sozialtherapeutische Anstalt einrichten. Behutsam Lockerungen einführen. „Gerade ist die Gefangenenzahl so niedrig“, sagt er. „Es wäre eine günstige Situation.