: Eine erstaunliche Applausordnung
Georges Banus Buch über Japan ■ Von Simone Schneider
Georges Banu wollte kein weiteres Buch über das japanische Theater schreiben. Statt dessen faßt er in aphoristischen Momentaufnahmen seine Reiseerlebnisse durch die japanische Theaterlandschaft zusammen, die er während seines Aufenthalts in Tokio und Kyoto sammeln konnte. Wer ihm folgen will, muß sich an seine Perspektive erst heranarbeiten. Als „belesener Betrachter“ schreibt der Autor weder den „fachkundigen Vortrag des Gelehrten“ noch das „Tagebuch eines Reisenden“. Der interessierte Leser hingegen muß durch diese Art des „absichtlichen Zwitterstils“ dann doch eines der anderen Bücher über das japanische Theater zur Hand nehmen, um Banus Beobachtungsreichtum, der sich die japanische Vorliebe für das schöne Detail zu eigen macht, schätzen zu können. Die Lektüre sollte jedoch nicht zu fachkundig sein. Nur so können die Gedankensplitter in dem regelrecht zer-gliederten Text das Buch zu einer erzählenden Meditation werden lassen. Anders versperrt es sich, und die dargestellten Phänomene verschwinden wie alljährlich die prächtige Kirschblüte im Reich der roten Sonne. Obwohl er alle Bereiche der japanischen Theater- und Aufführungspraxis berührt, ist der Autor als Beobachter eher ein herausfordernder Stilist, der sich weigert, ein Abbild zu bieten.
„Der Schauspieler kehrt nicht wieder“, diese Erfahrung taucht als abgewandeltes Grundmotiv in den verschiedenen Formen des japanischen Theaters (er behandelt unter anderem das No, das Kabuki, das Puppenspiel Bunrahu, und, weniger ausführlich, Buto) vor Banus Augen immer wieder auf. Das so auf das Einzelne eingeschränkte Anschauen erweitert seine Wahrnehmung: Der Schminkabdruck eines Schauspielers auf einem unbeschriebenen Blatt Papier, ein alter Brauch, dessen Spuren Banu in der Universität Waseda fand, erinnert ihn an die menschlichen Schatten, die die Bombe von Hiroshima in Stein geschlagen hat. „Und doch sind diese beiden Schatten einander nicht fremd; gemeinsam tun sie kund, was bleibt, wenn die Vergänglichkeit herrscht: das Leben und das Theater.“
In der fremden Kultur sucht Banu die Erinnerung an die eigene. In Japan will er wiedersehen, wofür er in Europa augenscheinlich blind geworden ist: die „Momente der Übertreibung“, die, wie er behauptet, auf der japanischen Bühne ihren Ursprung haben. In ihnen materialisiert sich sein Wunsch nach einem neuen Theater, das es weniger zu erschaffen als vielmehr zu entdecken gilt. Die Arbeiten von Brook, Vitez und Mnouchkine („Kabuki du Soleil“) sieht er fern von Europa neu. Das „imaginäre Kabuki“ Mnouchkines, eine Wendung, die dem Autor noch in Paris als „rhetorischer Trick“ erschien, um den Folklorevorwurf von der Gruppe abzuwenden, bringt nun, vom Ursprungsort beäugt, „zu einem Zeitpunkt, da die Nüchternheit der Brechtschen Bühne (übrigens auch unter fernöstlichem Einfluß entstanden) sich ihrem Ende zuneigt, alle Lust an den Materialien des Theaters, seinen Farbabstufungen und seiner sinnlichen Kraft zum Vorschein“. Sehr versteckt bietet Banu eine Defintion der „Übertreibung“, die deutlich macht, daß er darin die Wurzel des Theatralischen sieht, das in seiner Nicht-Sachlichkeit keine ethnische Grenzen kennt. Kafka zitierend plädiert er für ein anti-naturalistisches Theater, das die Wirklichkeit überhöht, ohne sich von ihr abzulösen: „Wenn das Theater auf das Leben einwirken soll, muß es stärker, dichter sein als der Alltag.“
Daß das japanische Theater diese Art der stilistischen Wirklichkeit bietet, gehört nicht zu den neusten Erkenntnissen. Fast alle Theaterreformer des 20.Jahrhuunderts waren fernöstlich beeinflußt. Die Theorie und Praxis von Brecht, Eisenstein, Artaud, Genet (der niemals dort war) sind maßgeblich durch diese Eindrücke geprägt. Doch während sich die Macher für das Bleibende interessierten, für die Expressivität der Gesten, für den Code der seit Jahrhunderten tradierten Zeichensprache, für die Verfremdung, für den verschwenderischen Prunk, letztlich also für alles Sichtbare, setzt der Betracher Banu sein Augenmerk auf das, was verschwindet. Im künstlich ausgeleuchteten Parkett hockt der europäische Zuschauer zwischen redenden, rohen Fisch essenden, schlafenden, zumeist weiblichen Japanern und bemerkt befremdet am Ende des ganztägigen No-Programms: Es gibt keinen Schlußapplaus. Die Schauspieler verbeugen sich nicht mehr an der Rampe, nach Aufführungsende strömen die Zuschauer in die U-Bahnschächte, und der Theaterraum wirkt so sauber, blankgeputzt und unberührt, als hätte dort niemals eine Vorstellung stattgefunden.
„Das japanische Theater kennt keine Ovationen“, schreibt Banu, und macht gleichzeitig klar, daß dieses Rezeptionsverhalten nicht gleichbedeutend mit schweigender Bewunderung ist, die westliche Theatermagier und Regieteufel dem verzauberten Publikum abringen wollten (Stanislawski, Grotowski). Während europäische Adaptionen eher davon sprechen, daß sich wahre Kunst durch schnöden Beifall profanisiert fühlt, ist das japanische Theater kein Gottesdienst. Nirgendwo ist der Starkult größer als dort.
Der japanische Zuschauer verhält sich zum Bühnenvorgang apathisch, emphatisch und fanatisch zugleich. Schüchtern wird im No der Abgang des Shiten beklatscht, mehr als eine Geste des Abschieds, und damit des Andenkens, als eine Gefallensbekundung. Im mehr volkstümlichen und sinnesfreudigen Kabuki feuern die sogenannten „Yago“-Rufe hingegen das Spiel der Darsteller unverhohlen wie bei einer sportlichen Veranstaltung an. Aber auch dieser Beifall gilt nicht dem Individuum, sondern dem vererbten Namen einer Schauspielersippe, der vom Vater auf den Sohn übertragen wird. Nicht die Kunst, sondern sie Kaste wird beklatscht.
Das Bewahren einer Tradition (das No-Theater hat sich seit Jahrhunderten weder im Repertoire noch im Ausdruck verändert) gilt in einer Gesellschaft, die von Recycling nichts hält und für wegwerfbare Eßstäbchen ganze Regenwälder abholzt, mehr als die Darbietung eines Einzelnen: „In Japan sterben lediglich die Menschen, niemals aber die Künste.“ Indem der Schauspieler seine Identität preisgibt (der Onnagata, der männliche Frauendarsteller, muß auch im Alltag als Frau leben, eine für Japan typische Entdifferenzierung von Leben und Kunst, die im speziellen Fall zu fatalen Mißverständnissen führen kann), behält das Theater sein Rätsel als eine zweite Wirklichkeit. Um diese geht es Banu, und nicht darum, eine äußere Erscheinungsform einer anderen Kultur auf westliche Verhältnisse zu übertragen. Wenn man ihn richtig versteht, darf im europäischen Theater auch weiterhin geklatscht werden. Die wiederentdeckte Essenz des japanischen Theaters bestimmt für Banu gleichzeitig das Wesen des Theaters allgemein: das japanische Theater als ein Theater des „rituellen Ereignisses“.
Georges Banu: Der Schauspieler kehrt nicht wieder , deutsch von Michael Mosblech, 136 Seiten, Alexander Verlag Berlin 1990, 28 DM.
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