: Eine Kostenexplosion gibt es nicht
Die „Kosten explodieren“, das „Anspruchsdenken grassiert“, nur die „Selbstbeteiligung der Nutznießer“ kann unser Krankenversicherungssystem retten - die Sprache der Gesundheitspolitiker ist griffig. Ihre Beispiele leuchten unmittelbar ein: Wenn es Freibier gibt, trinkt jeder ein paar Gläser mehr, als wenn er die Zeche selber bezahlen muß. Ja, wenn der Bundesarbeitsminister erzählt... Ein Blick auf die Ausgabenentwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) führt allerdings zu ganz anderen Schlußfolgerungen. Weder gibt es eine „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen noch ist das tatsäch liche Steigen der Mitgliederbeiträge auf unangemessene Ansprüche zurückzuführen. Schon der (1974 von Heiner Geißler geprägte) Begriff der „Kosten“–Explosion trägt ideologischen Charakter: Umsatzsteigerungen in anderen Wirtschaftssektoren werden gemeinhin mit der „Wachstumsdynamik“ erklärt, zu Kosten werden die steigenden Ausgaben der Krankenversicherungen nur, weil sie die Lohnkosten erhöhen. In der GKV hat aber nicht einmal eine Ausgaben“explosion“ stattgefunden. Vielmehr ist der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt seit Mitte der siebziger Jahre fast konstant geblieben: 1975 lag er bei 9,1 Prozent, 1983 bei 9,3 Prozent. Im gleichen Zeitraum kletterte aber der Beitragssatz von 10,43 Prozent auf 11,8 Prozent (heute: 12,8 Prozent). Auch die Entwicklung der Ausgaben insgesamt ist alles andere als explosiv: Zwar schnellten wegen des größeren Leistungsspektrums der GVK zwischen 1970 und 1975 die Ausgaben jährlich um etwa 14 Prozent in die Höhe, seitdem aber ist die Kurve stark abgeflacht, derzeit liegt die Steigerung jährlich bei um die vier Prozent. Die inflationsbereinigte Zunahme der Gesundheitsausgaben pro Kopf lag zwischen 1975 und 1980 um 18 Prozent, zwischen 1980 und 1984 gerade noch bei insgesamt einem Prozent. Trotzdem hat sich die Schere zwischen Einnahmen der GKV und Ausgaben stetig weiter geöffnet, ein Milliardendefizit hat sich aufgestaut. Die Ursache allerdings ist - paradoxerweise - eher die 1977 begonnene, sogenannte Kostendämpfung. Kern der meisten dieser „Kostendämpfungsgesetze“ ist der Versuch, die, zu erheblichen Teilen staatsfinanzierte, Rentenversicherung auf Kosten der, von den Versicherten finanzierten, GKV zu sanieren. Die dadurch entstehenden Defizite werden dann durch sogenannte Selbstbeteiligungsregelungen und Leistungskürzungen aufgefangen (sogenannte, weil die Beitragszahlungen zur GKV bereits eine Selbstbeteiligung an den Krankheitskosten sind). 1977 bis 1987 haben die GKV–Versicherten insgesamt 26,5 Milliarden an Selbstbeteiligung (zusätzlich zu den gestiegenen Beiträgen) aufbringen müssen. Durch die Art der Selbstbeteiligungsregelungen wurden vor allem chronisch Kranke massiv belastet. Eine entscheidende Rolle bei den Kostenverschiebungen spielten das 20. und 21. Rentenanpassungsgesetz von 1977 bis 1978. Sie senkten den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner zur GKV von 17 auf etwa elf Prozent. 1977 bis 1985 hat das zu Mindereinnahmen der GKV von etwa 130 Milliarden Mark geführt. Nach einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen ist der reale GKV– Beitragssatz - ohne den Anteil zur Krankenversicherung der Rentner - seit 1975 stetig gesunken (von 9,29 Prozent auf 1986 8,92 Prozent). Im gleichen Zeitraum stieg der tatsächlich bezahlte Beitragssatz von 10,43 auf 12,19 Prozent. Dieses Problem wird sich durch den immer größeren Anteil der Rentner an den Mitgliedern der GKV (von 1960 bis 1986 von 18,8 auf 29,5 Prozent gestiegen) verschärfen. Zumal auch die neuen Blüm–Vorschläge, bei Änderungen im Detail, keine Anzeichen dafür liefern, daß der Bund bereit wäre, in die Finanzierung, aus der er sich weitgehend zurückgezogen hat, wieder verstärkt einzusteigen. Aber auch durch den Rückzug des Bundes aus der Krankenhausfinanzierung oder Kürzungen beim Krankenversicherungszuschuß für Arbeitslose ist die GKV in den letzten Jahren zusätzlich belastet worden. Obwohl von einer Ausgabenexplosion nicht die Rede sein kann und die zunehmende Belastung der GKV–Mitglieder auf die Kostenverschiebungspolitik der Bundesregierungen zurückgeführt werden kann, zielt eine Politik, die sich nur gegen Kostensenkungen ausspricht, zu kurz. Tatsächlich finanziert die GKV auch unsinnige, teilweise sogar gefährliche medizinische Leistungen in Milliardenhöhe, und es gibt erhebliche Steigerungen von fragwürdigen Ausgaben. 1987 sind 199 Millionen Verordnungen im Wert von 4,8 Milliarden Mark von Arzneimitteln mit umstrittener Wirksamkeit vorgenommen worden. Ein ähnliches, keineswegs einmaliges Beispiel: Mehr als eine halbe Milliarde Mark hat die GKV 1985 für Venenmittel ausgegeben, von denen die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft feststellt: „Insgesamt gibt es keine wissenschaftlich begründete Indikation für sogenannte Venenmittel.“ „Eine ökonomische Gesundheitspolitik muß ihr Ziel verfehlen. Für die im Gesundheitssystem agierenden Kräfte heißt dies vor allem eine Besinnung auf die qualitative Dimension des sogenannten Sachleistungsprinzips“, resümiert Hartmut Reiners die Lage, der als Experte für die Grünen in der Bundestags–Enquetekommission zur Strukturreform im Gesundheitswesen sitzt.
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