: Eine Hoffnung für Traumatisierte
Der Chefarzt der psychiatrischen Tageskliniken in Herford und Bünde setzt sich dafür ein, die Trauma von asylsuchenden Flüchtlingen anzuerkennen
AUS HERFORD LUTZ DEBUS
Vor sechs Jahren bekam der Psychiater Wolf Müller in seinem Urlaub einen Anruf. Das Internationale Begegnungszentrum Bielefeld suchte dringend einen Gutachter. Zwei Kurden seien auf dem Kölner Hauptbahnhof aufgegriffen worden, befänden sich nun in Abschiebehaft in Büren. Am folgenden Tag machte sich Müller auf den Weg. Den Arzt der Haftanstalt bat er um ein Untersuchungszimmer, vergeblich. So führte er mit den beiden Kurden und einem Dolmetscher das Gespräch im allgemeinen Aufenthaltsraum. Nach zwei Stunden kam er zu der Diagnose: „Akute Suizidalität“. Eine Abschiebung in die Türkei sei eine nicht zu verantwortende Gefährdung für die beiden Flüchtlinge. Dies teilte er sofort den Vollzugsbeamten vor Ort mit. Doch deren Reaktion überraschte ihn: „Gut, dass Sie uns darauf aufmerksam machen. Dann können wir die Häftlinge ja in Einzelzellen verlegen.“ Für Wolf Müller war dies eine zynische Art der Suizidprävention.
Das zunächst einmalig gedachte Engagement des Chefarztes der Psychiatrischen Tageskliniken in Herford und Bünde sprach sich schnell herum. Aus vielen Regionen des Landes kamen Anfragen. Um nicht in der von ihm ehrenamtlich geleisteten Arbeit zu ertrinken, musste sich Müller auf Menschen aus dem Kreis Herford beschränken. Heute sind es zu einem großen Teil Yeziden aus Georgien, die seine Hilfe benötigen. Mitte der Neunziger Jahre gab es einen Exodus von Angehörigen dieses Volkes in westeuropäische Länder. Etwa 30.000 Menschen flohen vor Verfolgung. Zu sowjetischen Zeiten bildete diese Gemeinschaft, deren Religion auf eine 4.000-jährige Geschichte zurück blickt, eine wirtschaftliche Elite. Von dem sozialistischen System geschützt, brachten es die Yeziden 50 Jahre nach ihrer Vertreibung aus Syrien, dem Irak und der Türkei zu relativem Wohlstand. Doch mit der Unabhängigkeit Georgiens von der UdSSR änderte sich die Lage. Polizisten bekamen kein Lohn mehr und begannen, reiche und zugleich einflusslose Menschen zu erpressen. Sie drohten mit Gefängnis, Folter, Vergewaltigung und Mord. Wenn nicht genug gezahlt wurde, machten sie ihre Drohungen wahr. Flucht erschien als die einzige Rettung. Nachdem erste Familien in Ostwestfalen Zuflucht gefunden hatten und glaubten, als Flüchtlinge anerkannt zu werden, zogen immer mehr Yeziden in diese Region. Doch die Asylanträge wurden abgelehnt. Manche Yeziden spekulieren, dass das wiedervereinigte Deutschland dem ehemaligen sowjetischen Außenminister keine Blöße geben wollte. Eduard Schewardnase war bis vor kurzem Präsident Georgiens. Die offizielle Begründung heißt, dass Misshandlungen von Polizisten nur Einzelne betrafen, also nicht als staatliche Verfolgung zu werten seien.
Nach dem Ausländergesetz aber dürfen Kranke nicht abgeschoben werden, wenn in dem Herkunftsland keine medizinische Versorgung gewährleistet ist. Bei der Untersuchung von vielen Hilfesuchenden konnte Müller eindeutig eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren und verfasste dementsprechende detaillierte Stellungnahmen. Das Verwaltungsgericht in Minden entgegnete: „Ihre Diagnose kann nicht stimmen weil wir bereits festgestellt haben, dass das von Ihnen beschriebene Trauma nicht stattgefunden hat.“ Natürlich kann ein Psychiater die Lebensgeschichte seiner Patienten nicht nachweisen. Zweifelsfrei, so Müller, lassen sich aber Symptome belegen. Für eine posttraumatische Belastungsstörung muss sogar ein ganzes Bündel an Symptomen vorliegen, zum Beispiel Schlafstörungen, depressive Zustände, emotionale Ausbrüche, Suizidalität. Besonders charakteristisch ist das plötzliche Auftauchen von Erinnerungen an das erlebte Trauma. Kleinste Auslöser, wie bestimmte Geräusche oder Gerüche, können Gewaltopfer dazu bringen, sich kurze Zeit wieder in die Situation des Gefoltert-Werdens zu wähnen. „Solche Szenen“, gibt der Psychiater zu bedenken, „sind nicht simulierbar“.
Müller ist mit einer Gruppe, zu der auch mehrere Ärzte gehörten, sogar nach Nürnberg zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefahren, um mit den dort zuständigen Beamten über psychiatrische Diagnostik zu reden. Zunächst mit Erfolg. Die Diagnosen wurden zunächst anerkannt. Doch das Bundesamt forderte nun die Abschiebung von psychisch kranken Flüchtlingen, weil im Heimatland die Behandlung möglich sei. Die Deutsche Botschaft in Tiflis hatte eine Ärztin vor Ort gefunden, die dies erklärte. Ob eine langjährige therapeutische Behandlung für Abgeschobene dort überhaupt bezahlbar sei, interessierte die Behörde nicht. Müller wies einzelne Ausländerbehörden darauf hin, dass die Abzuschiebenden nicht reisefähig seien. Auch hierin sieht das Ausländerrecht ein Hindernis der Abschiebung. Doch andere Gutachten bescheinigten pauschal die Reisefähigkeit. Dabei fielen ihm und anderen Kollegen immer wieder zwei Namen von Gutachtern auf. Diese von den Ausländerbehörden bestellten und bezahlten Psychiater erklärten quasi jeden Flüchtling für reisefähig. Die beiden Kollegen betrieben einen für sie lukrativen bundesweiten Gutachtertourismus.
Müller berichtet mit bitterem Klang in der Stimme von vielen Einzelschicksalen. Die volljährigen Kinder von Flüchtlingen haben kein Recht, bei ihren Eltern zu bleiben. Junge Männer werden in Georgien sofort zum Militär eingezogen. Dort aber herrscht, von den Medien unbemerkt, ein blutiger Bürgerkrieg. Und was mit den jungen Frauen geschehen mag, die ohne Verwandtschaft, ohne Schutz, ohne Geld in Tiflis aus dem Flugzeug steigen? Wolf Müller hält sich die Hände vor sein Gesicht. Nach einer kurzen Pause: „Einem schwer depressiven Vater kann so eine Frage zur unerträglichen Qual werden.“
Dabei ist der erste Schritt der Therapie von posttraumatischen Belastungsstörungen die Gewährleistung von Sicherheit. Erst dann kann behutsam versucht werden, die Auslöser der plötzlichen Panikattacken zu finden und kontrollieren zu lernen. Viel später erfolgt die psychotherapeutische Bearbeitung des Traumas. Doch so weit kommt es gar nicht bei Flüchtlingen, die in der Angst leben, abgeschoben zu werden. Zunächst müsste eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erwirkt werden. Die Psychiatrische Tagesklinik in Bünde hat deshalb schon Kontakt zur Uni in Köln aufgenommen. Die Abteilung für Psychotraumatologie dort setzt international wissenschaftlich anerkannte Diagnostiktests ein, um zu unumstößlichen Diagnosen zu kommen. In der Praxis kann die Durchführung dieser Tests für die Betroffenen eine Tortur bedeuten, bestätigte der Psychologe der Tagesklinik, Hans-Peter Ahlefelder. „Fragen Sie einen traumatisierten Menschen nach seinem Trauma. Das ist oft verdrängt. Die zeitliche Reihenfolge der traumatisierenden Ereignisse, wichtig für die rechtliche Beweisführung und die Glaubwürdigkeit, wird von dem Flüchtling nicht willentlich vertauscht.“ Ein Mann aus Georgien hatte schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, indem er sich mit einem Messer im Brust- und Bauchbereich verletzte. Als dieser von Ahlefelder auf die von ihm erlittene Folter angesprochen wurde, wähnte er sich plötzlich wieder in jener Situation, entgegnete, dass er es nicht mehr aushalte, darüber reden zu müssen.
Trotz all der Frustration sieht Müller ein Silberstreif am Horizont. Die Psychiatrieschule, die vor allem lebensgeschichtliche Ursachen in seelischen Erkrankungen sieht, erlebte sich in den letzten Jahren in der Defensive. In der Fachwelt war wieder eine biologische Sichtweise psychischer Störungen, verbunden mit einer Renaissance der kritiklosen Gabe von Psychopharmaka, in den Vordergrund getreten. Nun aber werden überall Institute zur Erforschung der Psychotraumatologie gegründet. Egal ob Kriegsveteranen, Vergewaltigte, Unfallopfer, Flüchtlinge oder Psychiatriepatienten, die seelischen Störungen ähneln sich. Vielleicht, so Müller, können die Flüchtlinge im Kreis Herford etwas wichtiges auch für seine inländischen Patienten beweisen: Menschen irren nicht durch ihr Leben weil irgendeine DNA falsch ist. Sie irren umher, weil sie versuchen, ihrem Trauma nicht zu begegnen.