■ Der Neo-Liberalismus ist eine gefährliche Sozialphilosophie. Er ist neo-darwinistisch, zerstört das traditionelle europäische Solidaritätsprinzip und vereinzelt die Menschen: Eine Gefahr für die Grundlagen unserer Kultur
Ich würde hier gerne eine These entwickeln: Der so genannte „Neo-Liberalismus“, also das, was man auf einer bestimmten Form der Wirtschaftswissenschaft zu begründen versucht, ist in Wirklichkeit eine Sozialphilosophie. Irgendjemand hat einmal von einer eigenverantwortlichen Gesellschaft gesprochen, ein Ausdruck, den man ja häufig leichtfertig verwendet, vor allem in den Fernsehdebatten.Tatsächlich wird hier jedoch eine ganze Gesellschaft zur Debatte gestellt: eine Vision einer sozialen Welt. Der Neo-Liberalismus stellt sich selbst als eine kohärente Weltsicht dar, die auf einer bestimmten Zahl von Annahmen fußt, vor allem wissenschaftlichen, die jedoch zurückweisen auf das, was die Ethnologen oder Soziologen „Ethik“ nennen, also ein Zusammenspiel von – zumeist verinnerlichten – Werten, die in den einfachsten, banalsten und alltäglichsten Lebensweisen auftauchen. Es ist diese „Ethik“, den ich hier näher erläutern möchte.
Das neo-liberale Modell basiert auf drei Prinzipien. Zuerst: die Wirtschaft ist ein vom Sozialen getrennter Bereich, in dem Naturgesetze und universelle Gesetze herrschen, die die Regierungen nicht konterkarieren sollten. Das zweite Prinzip: Der Markt ist das optimale Mittel, um die Produktion und den Austausch in demokratischen Gesellschaften auf effektive und gerechte Weise zu organisieren. Das dritte Prinzip, das mehr konjunktureller Natur ist: Die Globalisierung erfordert eine Reduzierung der öffentlichen Ausgaben, vor allem im sozialen Bereich, soziale Rechte in den Bereichen Arbeit und Sozialversicherung gelten als kostenaufwendig und dysfunktional. Nur: Im Gegensatz zu dem, was oft behauptet wird, sind diese Prinzipien tief in einer individuellen Tradition verwurzelt, die keineswegs universal ist, sondern verbunden mit der amerikanischen Gesellschaft.
Die erste Besonderheit der amerikanischen Gesellschaft ist, dass der Staats dort auf ein Minimum reduziert und systematisch durch die „konservative, neo-liberale“ Revolution geschwächt ist. Diese Gesellschaft, die paradoxerweise wirtschaftlich und wissenschaftlich sehr weit entwickelt ist, ist sozial und politisch sehr rückständig. Die eigentlichen Grundlagen der amerikanischen Demokratie sind in ihrer Funktionsweise in Frage gestellt: geringe Wahlbeteiligung, fragwürdige Parteienfinanzierung, Abhängigkeit von den Medien und vom Geld. Dieses Modell der fortschrittlichen Demokratie ist zum Teil überholt. Eine der Eigenschaften des Staates, über die sich alle Soziologen einig sind: Er besitzt das Gewaltmonopol – in den USA jedoch kommt dieses staatliche Monopol kaum zum Tragen. Immerhin besitzen hier 70 Millionen Menschen Waffen.
Zum zweiten ist dieser Staat unter wirtschaftlichen Aspekten verkümmert: Er hat sich sukzessive aus der Wirtschaft zurückgezogen, und die öffentlichen Güter wie Gesundheit, Wohnungsbau, Sozialversicherung, Bildung oder Kultur sind kommerzialisiert worden. Die Nutznießer öffentlicher Leistungen sind zu Kunden geworden. Das alles geht von einer philosophischen Weltsicht aus, die im Begriff „Self Help“ zusammenfasst ist: Alle Individuen sind für ihr Glück selbst verantwortlich. Hierbei handelt es sich um eine alte calvinistische Vorstellung, der zufolge Gott denen hilft, die sich selbst helfen. Diese Weltsicht ist zu einem konstituierenden Bestandteil dessen geworden, was man gemeinhin „amerikanische Mentalität“ nennt. So kann man etwa in soziologischen Untersuchungen feststellen, dass Menschen, die entlassen wurden – anders als in Europa (oder gar Frankreich) – sich die Verantwortung für diese Kündigung selbst zuschreiben. Diese Betonung der individuellen Verantwortung, die im Zentrum einer konservativen Sicht der Gesellschaft steht, ist bis in unsere so genannten sozialistischen Regierungen verbreitet: Man hat viele Minister die „soziologische Sichtweise“ kritisieren hören, die mit der Tendenz gleichgesetzt wird, die Verantwortung für Krankheiten, Verbrechen oder Drogenkonsum sozialen Faktoren anzulasten.
Dritte Eigenschaft des amerikanischen Staates: Die Tatsache, dass er überhaupt nicht mehr Träger einer Auffassung ist, die man „hegelianisch-durkheimerisch“ nennen könnte. Danach wird der Staat als eine Art „höheres Gewissen“ über den Individuen angesehen, das fähig ist, die Erwartungen und oft widersprüchlichen Forderungen zu integrieren – im Namen der Gemeinschaftsinteressen und einer Vertretung, die für das kollektive Interesse als positiv angesehen wird. Diese Weltsicht, die in der amerikanischen Tradition niemals besonders stark hervorgetreten ist, wurde durch eine „konservative Revolution“ vernichtet, die sich jedoch gern einen revolutionären Anstrich gibt. Auf jeden Fall stimmt es, dass der Neo-Liberalismus voranschreitet und sich dabei maskiert unter Bezeichnungen wie „Reform“, „Revolution“, „Bewegung“, „Veränderung“. Die, die sich dem entgegenstellen, gelten als „Querulanten“, und „Rückständige“. Der Neo-Liberalismus ist deshalb schwer zu bekämpfen, weil er selbst in seinen konservativsten Aktionen noch versucht, die Revolution zu imitieren. So baut er etwa die sozialen Sicherungssysteme ab und täuscht gleichzeitig vor, das individuelle Schicksal der Kranken liege ihm am Herzen.
Ein anderes Charakteristikum: Die amerikanische Gesellschaft verkörpert eine extreme, realisierte Form des kapitalistischen Geistes. Max Weber beginnt sein Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ mit dem Kommentar eines sehr schönen Textes von Benjamin Franklin – von dem sich unsere liberalen Freunde inspirieren lassen könnten! –, der das Individuum und das Wohl des Individuums ins Zentrum der menschlichen Existenz stellt, des Sozialen, ja des Gesellschaftsentwurfs. Dieser Text gehorcht einer individuellen Logik der Profits, nicht nur des monetären Profits (man könnte ja sogar von Gewinn an Glück sprechen), aber immer in einer individuellen und berechnenden Logik. Und es ist eine Tatsache, dass keine andere der heutigen Gesellschaften eine berechnende Mentalität bis zu diesem Punkt entwickelt hat. Es gibt, zum Beispiel, ein Buch über die Soziologie der Erziehung mit dem Titel „Academic Market Place“, das Zusammenkünfte beschreibt, die einmal im Jahr meist in New York stattfinden, wo sich Akademiker de facto auf einem Markt anbieten, auf dem sie sich für potentielle Käufer möglichst interessant machen müssen. Die Amerikanisierung ist bis in die entlegensten Bereiche selbst der Literatur oder der Wissenschaft vorgedrungen, die sich gegen die Logik des Geldes herausgebildet haben: Man ist immer wieder überrascht, wenn man in den Vereinigten Staaten feststellt, mit welcher Brutalität die Menschen ihren Wert in Dollar einschätzen – eine Brutalität, in der man gewisse Tugenden ausmachen kann, aber humanistischen Erwartungen nicht entgegenkommt.
Ein andere neo-liberale Phrase lautet, dass die amerikanische Sozialordnung im Gegensatz zur Erstarrung der europäischen Gesellschaften dynamisch sei und dass sich Produktivität mit äußerster Flexibilität verbindet. Dies bedeutet, in der Unsicherheit ein positives Prinzip kollektiver Organisation zu sehen und diese Unsicherheit sogar zum Motor der Gesellschaft zu machen. „Wollt ihr, dass sie schuften, dann nehmt ihnen die Absicherung!“ Solch eine Haltung fußt auf einer zweifelhaftenTradition, in der häufig Soziologen und Mediziner standen. Es handelt sich dabei um eine Sozialphilosophie, die im völligen Gegensatz zu dem steht, was man im 19. Jahrhundert das „Solidaritätsprinzip“ nannte.
Ich will damit sagen, dass diese individualistische Philosophie und Verklärung der Mobilität zu neuen Formen von Arbeitsverträgen führt, die allem, was die europäischen Gesellschaften in ihrer Geschichte erreicht haben, völlig zuwiderläuft. Die Macht des Neo-Liberalismus besteht darin, die Unsicherheit zu institutionalisieren, sie für die Menschen bis in die höchsten Ränge der Hierarchie zur Selbstverständlichkeit zu machen, indem man sie zum ständigen Antrieb aller Ambitionen macht. In der gleichen Zeit werden die Arbeitsverträge einzeln ausgehandelt, so dass sie eine Vielfalt erzeugen, die sich, unter der Massgabe sozialer Mechanismen in den Denkweisen festsetzt. Man vereinzelt die Individuen, indem man sie entsozialisiert. Und indem man sie aus den grundlegenden sozialen Bindungen am Arbeitsplatz herausreisst. Man darf diesen Gegner nicht unterschätzen, dem es gelingt, diese Unsicherheit bis ins Innere der Strukturen zu tragen, das heisst, selbst an Orten, die als unveränderlich galten und die die Funktion hatten, Sicherheit zu stiften. Diese „neo-liberale“ Philosophie ist zugleich neo-darwinistisch, im Sinne, das nur die Stärksten überleben. Solidarität mit lahmen Enten ist nicht gefragt, ob es sich dabei um Unternehmen oder Individuen handelt.
Natürlich kann man diese Darstellung als vereinfachend bezeichnen - die amerikanische Gesellschaft ist komplex und voller Widersprüche. Aber man darf nicht übersehen, dass die Übertragung dieses Modells weitreichende Folgen hat, insoweit, als hier ein ganzes Wertsystem zerstört wird, eine Ethik, die aus einer langen Tradition erwachsen ist. Umso mehr, als sich dieses Modell durch Mechanismen stiller Überzeugungsarbeit durchsetzt - ich würde von symbolischer Gewalt sprechen - also durch Formen der Beherrschung, die nur durch die unbewusste Mitwirkung der Beherrschten funktionieren. Sie werden damit in gewisser Weise zu Verbündeten der Mechanismen, deren Opfer sie sind: Damit werden die Grundlagen der europäischen Kultur untergraben. 1995, als ich am Gare de Lyon eine Rede hielt, sagte ich so etwas wie: „Was hier auf dem Spiel steht, ist eine ganze Kultur. Dabei dachte ich mir: „Da hast du ein grosses Wort ausgesprochen, du hast übertrieben. Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass ich recht habe, und zwar in dem Sinne, dass es sich sehr wohl um eine Kultur, eine kulturelle Tradition handelt, die im 19. Jahrhundert allmählich kollektiv hervorgebracht und weitergegeben wurde.
In seinen politischen Schriften erklärt der Ethnologe Marcel Mauss, wie sich die Idee der Solidarität bei Arbeitsunfällen herausgebildet hat. Die Amerikaner mögen Moleküle erfinden, wir haben soziale Formen und Bereiche des sozialen Zusammenhalts erfunden, was einen Kampf gegen die Art sozialer Beziehungen bedeutet, wie sie in den Köpfen und Institutionen existieren. Das setzt auch eine Vielzahl weiterer Erfindungen voraus, die alle sich alle aus dem Streben nach Gemeinwohl orientieren.
So etwas heute zu sagen, mag naiv und abseitig erscheinen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass hinter dieser „neo-liberalen“ Philosophie soziale Kräfte wirken oderwirtschaftliche Kräfte, wenn die grossen Organisationen des Welthandels im Spiel sind; politisch-juristische Kräfte, wenn es um Brüssel geht. Im Gesundheitswesen unterscheidet uns eins vom amerikanischen System: Eben jene Idee der Solidarität, die einer Einrichtung wie der Krankenkasse zugrunde liegt. Aber verdienen die Krankenkassen überhaupt noch diesen Namen? Und liegt der Grund unseres Irritation nicht darin, dass längst auch in die Krankenkassen das neo-liberale Prinzip Eingang gefunden hat, das da lautet: Man muss Profite machen, man muss reinvestieren“. Ist daher nicht der Augenblick gekommen, sich auf das Beste des einst Erfundenen zu besinnnen und es wieder zum Leben zu erwecken, in dem man es neu erfindet?
Pierre Bourdieu
Übersetzung. Barbara Oertel
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