Ein Junge steht in einem langen, weißen Flur.

Alles in mir sagt, dass ich nicht auf Besucher warten möchte, um mich weniger einsam zu fühlen Foto: Fabian Weiss/laif

Eindrücke aus der Jugendpsychiatrie:Diese Kinder sind Krieger

In die Psychiatrie „De Koppeling“ kommen Teenager, die eine Gefahr für sich selbst oder für ihre Umwelt darstellen. Zwei Wochen in einer geschlossenen Welt.

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15.1.2020, 15:18  Uhr

Sergio ist ein großer, schlanker Mann in kurzen Hosen. Früher war er Fußballprofi, er spielte unter anderem bei Groningen und Telstar. Heute ist er pädagogischer Mitarbeiter an der geschlossenen Jugendeinrichtung De Koppeling in Amsterdam, wo ich mich fast zwei Wochen lang als Jugendlicher mit Verhaltensproblemen aufhalten werde. Sergio ist mein Mentor.

„Ich habe als Reisebegleiter am Flughafen Schiphol gearbeitet“, sagt er, „ich war arbeitslos. Ich frage alle jungen Leute, die hierher kommen: Was glaubst du, kannst du hier fürs Leben lernen?“

Bevor ich antworten kann, ergreift Sep das Wort. Sie ist die ­Sonderpädagogin. Sep ist eine Abkürzung des iranischen Namens Sepideh.

„Vor 2008 gab es die Jugendhilfe Plus nicht, was bedeutet, dass Jugendhilfe-Kinder, die sich derzeit in geschlossenen Einrichtungen aufhalten, vorher zusammen mit Jungkriminellen in Jugendstrafanstalten untergebracht wurden. Um hier verwahrt zu werden, muss ein Richter auf Anraten des Jugendamtes entschieden haben, dass sie eine Gefahr für sich selbst oder ihre Umwelt darstellen. Sie bekommen in der Regel drei oder sechs Monate, die ­Aufenthaltsdauer kann verlängert werden. Es gibt hier ungefähr 40 Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18. Wir haben die Gruppen Gandhi A und Gandhi B, für Jugendliche mit einer geistigen Behinderung; die Gruppe Cruijff für Jugendliche, von denen wir glauben, dass sie schnell wieder entlassen werden können; die Gruppe Mandela, von der einige Leute finden, dass sie die schwierigste Gruppe darstellt, ist für mich jedoch die einfachste, dabei handelt es sich um Jugendliche, die sich am Rande der forensischen Psychiatrie bewegen. Der Rest wird der Gruppe Obama zugeordnet, auch du. Du bist für mich von nun an ein Sechzehnjähriger, du bekommst keine Privilegien, keinen Schlüssel, wenn du kooperativ bist, dann darfst du ab und an für ein paar Stunden raus. Ich war früher selbst in solchen Anstalten. Ich dachte mir, später werde ich das besser machen.“

Sergio führt mich herum. „Ich hoffe, dass du Besuch bekommst“, sagt er. „Am Anfang hilft dir das, dich weniger einsam zu fühlen.“

Die Anstalt ist kein Gefängnis, aber hinter jeder Tür, die ins Schloss fällt, spürt man die Repression.

Wir treffen Dirk-Pieter, Behandlungskoordinator der Gruppe Obama: „Wir sollten das Fluchtrisiko nicht überschätzen. Meistens kommen sie zurück. Wenn einem Jugendlichen unter Begleitung Ausgang gewährt wird, darf der Begleiter ihn außerhalb der Anstalt nicht zurückhalten. Nur indem du ihnen gut zuredest. Aber wenn sie zurückkommen, verlieren sie einige ihrer Privilegien. Sie gehen zu McDonald’s oder zur Tanke, um Zigaretten zu holen, und dann sagt so ein Jugendlicher zum Begleiter: ‚Sorry, ich gehe jetzt.‘“

Alles in mir sagt mir, dass ich nicht auf Besucher warten möchte, um mich weniger einsam zu fühlen. An der Tanke werde ich meinem Begleiter sagen: „Sorry, ich gehe jetzt.“

***

Mein erster Morgen. Wir sind in Jorams Klasse, der uns das Rappen beibringen wird. Die Begleiter kommen mit, sobald wir in einen anderen Raum gehen oder in dem Klassenraum angekommen sind, wird die Tür verriegelt.

Ich sitze neben Jayden. Er trägt eine schwarze Mütze, er ist fünfzehn, seine Mutter kommt aus Russland. Er sagt, er sei süchtig nach dem Sammeln von Messern, und er hätte Messer unter seiner Matratze liegen. Er steht gerne hinter dir und schaut dich mit einem Blick an, bei dem du dir nicht sicher bist, ob er Kontakt sucht oder ob er dich heimlich auslacht.

„Ich kann nicht rappen“, sagt Jayden.

„Warum bist du dann hier?“, frage ich.

Er tippt mit dem Finger an die Stirn.

Dann ist da noch Sara, ein 14-jähriges Mädchen in einer Trainingshose, die älter aussieht, als sie ist.

„Bei diesem Beat klappt es nicht“, sagt sie. „Ich kann nichts damit anfangen.“

Joram lässt einen Rap hören, der in der vorherigen Lektion entstanden ist. „Jeder liebt seine Mutter“, sagt Joram. „Deshalb trifft er auf alle zu.“

Ich höre: „Mama, I love you / In diesen Tagen hattest du viel Schmerz / Sorry, ich brach dein Herz“.

Danach arbeiten wir an neuen Raps.

Ein großer, dunkler Junge aus einer anderen Gruppe ruft: „Mein Kopf ist voller Geld.“

„Schreib halt was drüber“, sagt Joram.

Später rappt der Junge: „Money machen/ kannst du lernen/ das ist twenty six.“

Ich frage: „Was ist twenty six?“

„Meine Gang.“

„Eine bekannte Gang?“

Der Junge sieht mich mitleidig an. „Upcoming, Bruder“, murmelt er.

Joram sagt zu mir: „Du bist neu hier, versuch doch etwas zu schreiben.“

Ich arbeite an einem Rap, den ich vor langer Zeit angefangen habe zu schreiben: „Ich bin ein Teenie in der Liebe/ ich nehme ein Uber Taxi zur Liebe/ Frauen schenken mir ihr Vertrauen/ aber sie können niemals auf mich bauen.“

Mittagszeit. Das Besteck liegt hinter Schloss und Riegel, auf Messer und Gabel steht eine Nummer, die der Zimmernummer des Jugendlichen entspricht. Wenn ein Messer oder eine Gabel fehlt, weiß man gleich, wo man suchen muss.

Die Kurzgeschichte erscheint hier erstmals auf Deutsch. Arnon Grünberg hat schon zuvor zur Situation in psychia­trischen Kliniken gearbeitet, 2013 erschien der Text „Auf der Omega 4“ in der taz.

Ich habe noch keine Nummer, ich versuche es ohne Messer.

Mein Mentor sagt, dass ein Jugendlicher aus einer anderen Gruppe wissen wollte, ob der Schriftsteller auch zu Boden gebracht wird, wenn er sich daneben benimmt. Wenn die Begleiter glauben, dass es keinen anderen Ausweg mehr gibt, drücken sie den Alarmknopf und dann kommen von allen Seiten Begleiter herbeigerannt, die den Jugendlichen zu fünft zu Boden bringen. Mein Mentor antwortet: „Wenn sich der Schriftsteller danebenbenimmt, werden wir ihn zu Boden bringen.“

***

Sasha sitzt auf ihrem Bett, sie ist dünn, hat blonde Haare und trägt ein hübsches blaues Kleid mit Schmetterlingen. Sie ist 15 Jahre alt und wird eins zu eins betreut. Sasha wollte von mir wissen, woher Inspiration kommt.

„Ich werde ein Buch über einen Serienmörder schreiben“, sagt sie. „Das macht mir Spaß. Ich habe keine Stifte in meinem Zimmer, ich könnte mich damit selbst verletzen. Ich habe einen Laptop, aber der ist nicht hier. Ich vertraue niemandem – doch, Xandra, aber die habe ich im Internet kennengelernt, deshalb weiß man nie genau, ob sie auch wirklich ein 14-jähriges Mädchen ist.“

Ich stimme ihr zu.

„Vielleicht sollte ich Astronautin werden“, sagt sie, „das geht aus einem Test hervor. Nichts wo man an Sitzungen teilnehmen muss, weil die Leute mich nicht verstehen und ich die Leute nicht verstehe. Menschen mit Autismus denken anders.“

„Kannst du mir erklären, wie Menschen mit Autismus denken?“, frage ich.

Sie denkt nach, dann sagt sie: „Ich möchte lieber geschlagen als beschimpft werden.“

„Wurdest du oft geschlagen?“, frage ich.

„Ich wurde schon mal zu Boden gebracht.“

„Wie ist das?“

„Bodenartig.“

Sie steht auf und wirft sich auf den Boden.

„Als ich 9 war, passierte es zum ersten Mal, im Uniklinikum. Unglaublich, oder? Vier Leute, die ein 9-jähriges Mädchen zu Boden bringen. Aber ich finde das nicht weiter schlimm. Mit zweieinhalb Jahren war ich schon aggressiv. Ich habe meine Mutter geschlagen, dann hat meine Mutter die Polizei gerufen. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte.“ Nach einer kurzen Pause: „Du bist sicher oft verliebt?“

„Warum glaubst du das?“

„Weil du Romane schreibst.“

„Das hat nichts damit zu tun“, antworte ich, obwohl ich nicht weiß, ob ich die Wahrheit spreche.

„Ich habe ein Buch geschrieben, ‚Das Blumenblut‘, über einen flämischen Mädchenmörder namens Seppe. Er sagt zu dem Mädchen: ‚Ganz ruhig, Mädchen. Die Leute sagen, dass es nach einem guten Buch aussieht.‘“

„Lies mir etwas daraus vor“, sage ich.

Sie nickt. „Ich kann klarträumen, in anderen Träumen mache ich hauptsächlich Dinge falsch oder werde gemobbt. Ich fühle mich einsam unter Menschen.“

„Soll ich ein anderes Mal wiederkommen?“, frage ich.

„Käse“, antwortet Sasha. „Achte nicht drauf. Das ist mein Stoppwort.“

Ein Begleiter bringt mich in meine Zelle. Die Türe wird abgeschlossen. Ich nehme Dostojewskis „Brüder Karamasow“ zur Hand und komme zur Stelle, an der Iwan Karamasow seine Eintrittskarte für diese Welt zurückgibt, weil er das Leiden von Kindern nicht ertragen kann.

Stuhlbeine mit Schutz.

Es gibt wenig, wofür sich das Aufwachen lohnt Foto: Fabian Weiss/laif

***

Die Gruppe Obama setzt sich aus neun Jugendlichen und einem Schriftsteller zusammen; zwei von ihnen stehen auf der Fahndungsliste, das heißt, sie sind weggelaufen. Beim Zigarettenkauf mit einer Gruppenleiterin oder begleitetem Urlaub sagten zwei andere Jungen, Joey und Leroy, zu Gruppenleiterin Rachel: „Sorry, wir mögen dich, aber wir hauen ab, wir begleiten dich noch bis zur Koppeling, damit du nicht alleine nach Hause gehen musst.“

Rachel musste selbst darüber lachen.

Und dann waren es nur noch sechs in der Gruppe Obama.

Die Jungs scheinen um vier Uhr morgens nach Hause gekommen zu sein. Ich schlief bereits. Von meinem Zimmerfenster aus blickt man auf die Abteilung Gandhi, wo die lernschwachen Jugendlichen untergebracht sind. Fast jede Nacht ruft ein Junge, der immer mit einer Haarbürste herumläuft: „Hey Arnon, arbeite nicht zu lange.“ Der Junge mit der Haarbürste ist mein Freund.

Während des Mittagessens am nächsten Tag – die Mahlzeiten werden im Wohnzimmer eingenommen – erzählen die ausgebüchsten Jungs von ihren Abenteuern in Abcoude. Joey ist ein fünfzehnjähriger Junge mit kurzgeschorenen Haaren und Pickeln. Er ist anscheinend drogensüchtig und Großkonsument, er sagt, er sei auch Drogenkurier für einen Dealer gewesen.

„Du hättest heute Nacht dabei sein sollen“, sagt er. „Mir wurde hinter einer Kirmesattraktion einer geblasen, aber ich musste mein Käppi aufbehalten, sonst hätte ich ihr nicht gefallen.“

„Nicht gefickt?“, frage ich.

„Wenn das Chick von Leroy nicht gekotzt hätte, hätten wir auch gefickt, aber nach dem Kotzen sind sie mit Uber nach Amsterdam gefahren.“

Leroy ist 17 und lässt sich zum Sicherheitsbeamten ausbilden. Er wollte ins Militär, aber das war wegen seines ADHS nicht möglich. „Sei ehrlich, Bruder“, sagt Leroy, „dein Chickie kam aus einem Bus voller Downies.“

Alle lachen, Joey ruft seinem Begleiter Sergio zu: „Mir wurde letzte Nacht einer geblasen, freust du dich nicht für mich?“

Später gehe ich mit Sara und dem Begleiter Patrick zum Supermarkt um Zigaretten zu holen. Patrick sagt, dass zwei außer Kontrolle geratene Jungs aus der Gruppe Gandhi ein Video gepostet haben, das zeigt, wie sie in einem Hotelzimmer chillen.

Hier bricht keine Hysterie aus, wenn einer mal wegläuft. Repressionen rufen bei Traumatisierten oft nur noch mehr Traumata hervor.

„Wie kommt Ihr überhaupt an Geld?“, frage ich.

„Wir hatten Jungs“, sagt Patrick, „die haben einen Albert-Heijn-Supermarkt mit einem Messer überfallen.“

Es wird Abend. Meine neuen Freunde sind genau wie ich in ihrem Zimmer eingesperrt. Heute Nacht wird ihnen hinter einer Kirmesattraktion keiner geblasen, aber in der Koppeling gibt es auch Attraktionen.

***

Shaneyney ist 17, hat kurzes, dunkles Haar, spricht kaum und isst vegan. Heute Morgen fragt sie, ob sie die Nudelreste vom Vorabend zum Frühstück essen darf. Das darf sie. Am Nachmittag isst sie wieder diese Nudeln. Einmal fragte sie mich, ob ich eine Erdbeere wollte. Der intimste Moment zwischen uns.

Bevor sie ins Koppeling kam, verbrachte sie zwei Jahre in einer offenen Anstalt in Hoenderloo, ihrer Meinung nach war es dort schlimmer als in der Koppeling.

Sara war drei Monate in Hoenderloo. „Bei allem musste man um Erlaubnis bitten“, sagt sie. „Eines Tages bin ich abgehauen, ich bin in meinen Pantoffeln zuerst vier Stunden durch den Wald geirrt. Als die Polizei kam, gab ich vor, zu joggen. Einmal habe ich meiner Begleiterin ein Glas nachgeschmissen. So bin ich hierhergekommen.“

„Es gibt einen Ausweg aus dieser Scheiße“, sagt Begleiter Ramesh. Er ist mit einer Inderin verheiratet und hat drei Kinder. „Lernen, lernen und nochmals lernen.“

Zeit für Projekttherapie. Die Projekttherapie setzt sich aus Musiktherapie und Kunsttherapie zusammen. Während der Therapie wird man beobachtet. Zuerst Kunsttherapie von Relinde und Helene. Ich sitze neben Mo, einem lieben Jungen, der aus der Gruppe Mandela kommt, der forensisch-psychiatrischen Gruppe. „Vorher war ich im Jugendgefängnis“, sagt er, „dort hatte ich es besser als hier. Trau dich mal, das aufzuschreiben.“

In der Gruppe Mandela müssen sie alle 45 Minuten den Ort wechseln, 45 Minuten in der Gruppe, 45 Minuten im Zimmer. Die Impulse von außen werden für die Jugendlichen zu stark, aber selbst sehen sie das anders. Einmal gab es in der Gruppe Mandela einen Aufstand, sie haben Toaster herumgeworfen. Da musste die Polizei mit Hunden und Schutzschilden anrücken.

„Warum warst du im Jugendgefängnis?“, frage ich.

„Einbruch. Mopeds stehlen. Wenn sie dich erwischen, sag nichts. Sag einfach nichts, das ist dein gutes Recht, Bruder.“

Ich verspreche, meine Rechte gegebenenfalls zu nutzen.

Dann folgt die Musiktherapie mit Harry. Ein Mann in den Vierzigern mit Lesebrille, der den Eindruck erweckt, irgendwann einmal heimlich an einer Karriere als Rockstar gebastelt zu haben.

„Ich will rappen“, sagt Sara.

„Worüber?“, fragt Harry.

„Ich rappe immer über das Leben auf der Straße“, sagt Sara. „Oder über die Liebe.“

„Lasst uns über die Liebe rappen“, sagt Madelon von der Gruppe ­Cruijff, ein gepflegtes, 16-jähriges blondes Mädchen. „Die Jungs hier meinen es nicht ernst. Sie ficken jeden Tag eine andere Hure. Sie wollen dich nur zum Sex und dann wollen sie dich wieder loswerden.“

„Ich bin schockiert“, sagt der Musiktherapeut.

Madelon zuckt die Achseln.

„Ganz viele Jungs sind so“, sagt sie.

Ein junge sitzt auf einem Bett, da Gesicht ist angeschnitten und er lacht.

Er sagt, er sei süchtig nach dem Sammeln von Messern Foto: Fabian Weiss/laif

***

Sergio hat Geburtstag. Die Kinder kommen, um ihm die Hand zu schütteln. Jayden trägt einen weißen Pullover mit der Aufschrift „Fred Perry“.

„Wer ist Fred Perry?“, fragt Sergio.

Jayden zuckt die Achseln. „Keine Ahnung, ich habe den Pullover gekauft, weil er teuer war, aber den Stoff mochte ich auch.“

Die Schule beginnt. Heute sind wir zu viert in einer Klasse. Die Lehrerin, Frau Dulci, spricht mit uns über unsere Zukunft. Dann kommt der Junge mit der Haarbürste aus der Gruppe Gandhi herein, er setzt sich, schaut sich verstört um und verschwindet wieder, um danach gleich wiederzukommen.

„Wir haben eine Abmachung“, sagt Frau Dulci, „keine Käppi im Unterricht.“

Der Junge zeigt auf Jayden. „Er trägt eine Sturmhaube.“

„Vielleicht wurden mit ihm andere Vereinbarungen getroffen.“

„Schau mich nicht an“, ruft der Junge mit der Haarbürste zu Jayden, „sonst schlag ich dich.“

Da der Haarbürstenjunge seine Käppi nicht abnimmt, wird Verstärkung herbeigerufen; ein kräftig gebauter Mann macht mit dem Jungen draußen eine Runde. In der Zwischenzeit geht der Unterricht weiter. Madelon erklärt: „Meine Mentorin ist eine Hure.“

Es entsteht eine Diskussion darüber, ob Mentorinnen „Hure“ genannt werden dürfen. Die Diskussion ist kaum beendet, da kommt der Haarbürstenjunge zurück. Ohne Käppi, aber mit Kopftuch.

„Du hast mich verarscht“, sagt er zur Lehrerin, „ich muss meine Vaseline haben.“

Ich frage nicht, wozu der Haarbürstenjunge denn Vaseline braucht. Fräulein Dulci sagt: „Vergiss nicht, dass du anschließend zum Aggressionstraining musst.“

Die Aussicht auf das Aggressions­training versetzt den Haarbürstenjungen in Spannung. „Muss ich dich total zusammenschlagen?“, fragt er Fräulein Dulci.

Shaneyney ist mucksmäuschenstill, erst als die Lehrerin wissen will, welchen Beruf sie später einmal ausüben möchte, antwortet sie: „Chirurgin.“

Zum Mittagessen gibt es auch Kuchen. Weil Jayden aus ungeklärten Gründen Probleme mit seiner Plastikgabel hat, isst er den Kuchen wie ein Hund. Draußen begegne ich einer Mitarbeiterin der Gruppe Pink, jener Mädchengruppe, die in die Innenstadt verlegt wurde und von der die meisten Opfer von Loverboys geworden sind.

„Du solltest mal bei uns vorbeischauen“, sagt sie. „Wenn eine mit dem Ritzen anfängt, machen es ihr gleich alle nach. Oft, wenn sie neben dir sitzen, um dich auf die Probe zu stellen. Jungs machen das nicht, nur Mädchen. Manchmal beantworte ich das Telefon mit dem albernen Spruch: ‚Spitze, dass ich ritze.‘“

Der Ruhemoment am Nachmittag. Wir werden für eine halbe Stunde in unserem Zimmer eingesperrt. Ich habe den Drang, meine Faust an der Fensterscheibe kaputt zu schlagen. Eine geschlossene Jugendeinrichtung geht einem mehr unter die Haut als ein Aufenthalt im Irak oder Afghanistan.

Weil mir meine Hände zu lieb sind, werfe ich mich aufs Bett und kann nicht aufhören zu weinen.

***

Eine Sitzung um halb neun morgens, bei der die Ereignisse des Tages resümiert werden. Die Kinder dürfen nicht dabei sein – der Schriftsteller aber ist nun doch ein Kind mit Privilegien, er darf zuhören.

Die Aufgaben im Falle eines Alarms werden auf die verschiedenen Gruppen verteilt. Eine Frau sagt: „Obama packt die Arme, Cruijff die Beine, Gandhi führt Regie.“

So wird das zu Boden bringen der jungen Leute schon fast zu einem Tanz. Jacqueline, 16, ist wieder da. Sie war über eine Woche weg, sie hat halblange blonde Haare. Jacqueline hat eine Blase, die Gitta verarztet. „Ist noch eine Zigarette in meinem Schließfach?“ fragt Jacqueline. Rauchen ist sinnstiftend. Dann wendet sich Jacqueline an mich: „Man muss denen sagen, dass Kinder nicht auf diesen Betten liegen können, die Matratzen sind zu hart.“

Jacqueline geht nicht intern zur Schule und weil es extern einigermaßen gut läuft, darf sie, obwohl sie weggelaufen war, zur Türe raus. Diejenigen, die nicht extern zur Schule gehen, gehen zu Herrn Richard, der vorher in einem Sternerestaurant gearbeitet hat; aber Chefkoch war nicht so sein Ding.

Seine Kochkurse, die auch ich bereits besucht habe, sind legendär.

Die Kinder werden aus ihrer Lethargie geweckt, die Messerklingen sind lang und scharf, Zwischenfälle gibt es keine. „Wenn du Angst hast, hast du verloren“, sagte Richard. „Aber wenn es sein muss, dann werfe ich mich auf ein Kind.“

An diesem Morgen gibt Richard keinen Kochkurs. Acht Kinder arbeiten auf verschiedenen Ebenen. Manchmal heißt arbeiten sich einen Film anzusehen.

Ich helfe einem Jungen bei seinem Bewerbungsschreiben.

„Wie lange hast du schon nicht mehr gekifft?“ fragt Richard den Jungen, „sei ehrlich.“

„Eine Woche.“

„Wann hast du gekifft?“

„Beim Aufstehen“, sagt der Junge.

„Das ist nicht gut, ich trinke auch keinen Wodka beim Aufstehen. Ich habe früher viel getrunken“, erzählt Richard. „Wenn ich getrunken hatte, hatte ich den Mut, ein hübsches Mädchen anzusprechen. „

Das Gespräch dreht sich jetzt um Koks. „Es macht dich aggressiv“, sagt ein Junge.

Ein anderer Junge ruft: „Es gibt dir Selbstvertrauen.“ Was nicht alles unter Selbstmedikation fällt…

Wenn ich die Kinder nach ihrer Zukunft frage, lautet die Antwort oft: Betreutes Wohnen.

Auf der Treppe begegne ich Jaydens Eltern.

„Wie geht's?“, frage ich.

„Besser“, sagt der Vater, „bevor er hierher kam, hatte er sich ein halbes Jahr lang nicht geduscht und kein Wort gesagt. Jetzt duscht er und sagt ab und zu etwas.“

Fortschritt muss man in einen historischen Kontext einordnen.

Und wir, die nicht glauben, verletzte Kinder zu sein, nennen betreutes Wohnen Liebe.

***

Manchmal wollen die Kinder nicht aufwachen. Es gibt auch nur wenig, wofür sich das Aufwachen lohnt. Einige Begleiter kippen in ihrer Verzweiflung ein Glas Wasser über das Kind, Begleiter Earvin klingelt lieber mit Schlüsseln, obwohl Sep glaubt, dass das Klingeln mit Schlüsseln den Eindruck verstärkt, dass wir uns in einem Gefängnis befinden.

Am schwierigsten finde ich das Rumhängen. Wir warten, auf Ausgang, auf Zigaretten, auf einen Besuch, wenn der Besuch da ist, warten wir darauf, dass er wieder weggeht, auf unser Telefon, das sich in einem Schließfach befindet und das wir nur eine Stunde am Tag benutzen dürfen, und dann dürfen wir nur Nummern wählen, die von unseren Begleitern genehmigt wurden; wir warten auf das Leben.

Der Junge, der immer mit einer Haarbürste herumläuft, weil er ständig Angst hat, dass seine Frisur nicht richtig sitzt, sagt: „Sie wollen mich kaputtmachen, und die scheiß Jugendfürsorge will das auch.“

Madelon, die nach eigenen Angaben ein Model war und auch Profi-Eiskunstläuferin, stimmt ihm zu. „Ja, das ist wirklich so“, sagt sie.

Wir müssen weiter über die Zukunft sprechen, egal wie beängstigend dies auch ist. Jayden sieht die Zukunft so: „Ich möchte einfach nur zu Hause bleiben.“ Nach weiterem Andringen sagt er: „Ich möchte Zollbeamter werden. Dann kann ich Koffer voller Crack öffnen.“

Er hat ein Stück geschrieben, dessen erster Satz lautet: „Ich war mit meinen Freunden in Amsterdam am Chillen, wir haben eine Nitratbombe vor dem Haus meiner Mutter angezündet.“

wurde 1971 in Amsterdam geboren. Er lebt seit vielen Jahren als Schriftsteller und Journalist in New York. Bislang hat er 16 Romane veröffentlicht, zwei unter dem Pseudonym Marek van der Jagt. Ins Deutsche übertragen wurden zuletzt der Roman „Muttermale“ (Kiepenheuer & Witsch, 2016) sowie der Reportagenband „Couchsurfen und andere Schlachten“ (Diogenes, 2017).

Nichts geschieht grundlos, aber darüber wird nicht geredet. Lass die Hilfeleistenden, die Außenstehenden, die Leser ruhig Rätsel raten. Wir sind unsere Geheimnisse.

Das letzte Mittagessen. Die Kinder haben schon lange zu mir gesagt: „Du musst einen Alarm auslösen.“ Ich löse einen Alarm aus. Fünf Männer stürmen herein und wollen mich in mein Zimmer schleifen. Ich weiß, dass dies ein Spiel ist, und doch widerstrebt sich alles in mir gegen diese Gewalt. Ich bin wieder 17, ich will meine Schule nicht beenden, ich hasse jeden, der Macht über mich ausüben will. Ich verweigere mich. Ich sage Nein.

Die Kinder haben ein Büchlein für mich gemacht, als Abschiedsgeschenk.

Ich würde sie gerne umarmen, aber ich traue mich nicht.

Sep sagt: „Diese Kinder sind Krieger.“ Soldaten, würden sie wahr­scheinlich eher von sich selbst behaupten.

Wenn ich nicht einer von ihnen bin, wer bin ich dann? Ein beschädigtes Kind, getarnt als Krieger; ich kann nichts anderes sein, ich will nichts anderes sein.

Was diese Kinder mir beigebracht ­haben, ist, ein besserer Krieger zu ­werden.

Und wenn nicht jetzt, wann dann?

Übersetzung aus dem Niederländischen von Andrea Prins

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