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Archiv-Artikel

Ein literarisches Medellín ganz ohne Kokakiller

KOLUMBIEN „Alltag statt Gewalt“ lautet das Motto des kolumbianischen Schriftstellers Memo Anjel. Der schreibt in seinem Roman „Mindeles Liebe“ über amouröse Verwicklungen in der kleinen jüdischen Gemeinde in Medellín

Hat es Reuvén Toledo mehr auf das Kapital der Schwiegermutter abgesehen als auf die Braut?

VON KNUT HENKEL

„Schauen Sie sich um. Hier zerschellen alle Stereotypen von Gewalt und Co. Prado ist ruhig und strebsam und liegt doch mitten in Medellín“, sagt Memo Anjel und blinzelt schelmisch aus den dunklen Augen. Liebend gern spielt der Professor für soziale Kommunikation mit den Stereotypen, denn ganz genau weiß der 54-Jährige, dass dieses ruhige Stadtviertel mit den vielen Gründerzeitvillen ganz und gar nicht ins weit verbreitete Bild Medellíns als Metropole des organisierten Kokainschmuggels passt.

Bis heute kämpft die Zwei- Millionen-Stadt gegen das Stigma der Kokain- und Killerhochburg, und Memo Anjel ist dabei ein Bannerträger des anderen Kolumbiens. Ein echter Überzeugungstäter, denn Anjel, im Hauptberuf Professor für Journalismus an der zweitgrößten Hochschule der Stadt, geht die ewige Litanei über die Gewalt auf die Nerven. „In Kolumbien gibt es zu viele Schriftsteller, die in die Falle der Porno-Misere und des Killertums fallen und die unterschiedlichen Realitäten im Land nicht einmal kennen“, kritisiert der in Medellín geborene jüdische Schriftsteller mit leiser Stimme.

Reise ins jüdische Viertel

Er hat seine eigene Geschichte und die der sephardischen Gemeinde in Medellín als literarisches Thema entdeckt und gehört damit zu der Gruppe von Autoren, die denen gegenüberstehen, die „Gewalt nur noch verkauft“. Diese Kollegen Anjels leben ganz gut davon, denn die Verlage in Kolumbien bevorzugen Romane über violencia, Gewalt, die seit über fünfzig Jahren das lateinamerikanische Land prägt. Platz für andere Themen findet sich nur selten, und Anjel gehört zu den wenigen Schriftstellern, die sich eine eigene Nische aufgebaut haben. Vor allem in den Universitätsverlagen kommen seine humorvollen Romane über die eigene jüdische Familie im Medellín der Fünfzigerjahre heraus. Aus gerade siebzig Familien besteht die kleine jüdische Gemeinde Medellíns, und das Gros sind Sepharden, die irgendwann aus dem Mittelmeerraum nach Kolumbien emigriert waren.

So auch die Familie von Memo Anjel. Zu Beginn der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts zogen die Eltern aus Algerien ins jüdische Viertel von Medellín um und mussten sich vollkommen neu orientieren. Das schimmert in Memo Anjels erstem in Deutschland veröffentlichtem Roman „Das meschuggene Jahr“ genauso durch wie die Marotten seiner Protagonisten. Da ist zum Beispiel das Familienoberhaupt, welches nach Feierabend an abstrusen Geräten wie einer Brotbackmaschine werkelt, um der vielköpfigen Familie den Traum der Reise nach Jerusalem zu ermöglichen. Oder der Onkel Chaim, der eines Tages wie aus dem Nichts auftaucht, sich fortan im Haus nützlich macht und die Kinder mit fantastischen Geschichten aus allen Winkeln der Welt unterhält. Charmant, eigenwillig und manchmal etwas wunderlich sind die Figuren von Memo Anjel, der mit großer Begeisterung und viel Spaß am Detail in den Winkeln der eigenen Jugend stöbert.

Eine eigenwillige Liebende

Bei der Reise mit der Zeitmaschine durch die Straßen des jüdischen Viertels von Medellín, ob durch die Calle Belalcázar oder die Calle Popayán, lässt der Professor mit den fröhlich funkelnden Augen die Figuren aus der eigenen Kindheit wiederauferstehen. Sei es der Hausarzt, der mit wenig Geschick Onkel Chaim von der Schwindsucht zu therapieren sucht, oder der kauzige Fabrikbesitzer Sudit, bei dem der Vater als Ingenieur angestellt ist und der quasi zum Inventar der Familie gehört. Allesamt Charaktere, „die machen, was sie wollen“, wie Memo Anjel im Vorwort zu seinem neuesten Roman „Mindeles Liebe“ schreibt. „Mindele“ ist jiddisch und heißt Püppchen, doch es handelt sich nicht um eines dieser porzellanartigen Wesen ohne Charakter, sondern um eine eigenwillige Liebende. Die wird gleich zu Beginn des Romans jüdisch-traditionell mit Reuvén Toledo verheiratet.

Ein Ereignis für die jüdische Gemeinde Medellíns und die Familie unseres Erzählers, über das vorab am Küchentisch debattiert wird. Hat es Reuvén Toledo mehr auf das Kapital der Schwiegermutter abgesehen als auf die Braut? Die hat sich derweil schon in Onkel Chaim verguckt, der wiederum mit der eigenen Schwester Rivka verbunden ist. So nimmt das unterhaltsame, bisweilen konfus anmutende Familiendrama seinen Lauf.

Mit der nicht ganz so glücklichen Liebesgeschichte bastelt Memo Anjel weiter an seinem übergeordneten literarischen Projekt. Dem verstaubten Klischee über die Sepharden will er etwas Neues entgegensetzen. „In meinen Romanen sind die Sepharden ganz normale Menschen, die leben, lieben und ihren Alltag in Medellín mit all den absurden Hürden meistern“, erklärt Memo Anjel schmunzelnd. Ein Beispiel für das andere Kolumbien, über das Memo Anjel liebend gern mehr lesen würde. „Über den ganz normalen Alltag abseits von Gewalt und Krieg fehlen uns Romane. Geschichten über Hausfrauen, Studenten, Musiker, Jugendliche und deren Leben“, sagt er und fährt sich durch die schwarzen Haare. Das wären literarische Beiträge für ein anderes Kolumbien.

■ Memo Anjel: „Mindeles Liebe. Ein jüdischer Roman aus Medellín“. Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek. Rotpunktverlag, 199 Seiten, 19,50 €