: Ein lebendiges Wunder
Die erotischen Bedürfnisse von Behinderten sind immer noch mit vielen Tabus belegt, erste sexualtherapeutische Angebote stellen Pionierarbeit dar
von ANDREAS HERGETH
Irgendwo in Berlin klingelt Nina de Vries, eine gut aussehende Frau Ende dreißig, an der Haustür eines Reihenhauses. Eine Frau öffnet die Tür. Beide umarmen sich. „Schön, dass du da bist“, wird der Gast freundlich begrüßt. Schnitt. Im elterlichen Schlafzimmer liegt bewegungslos ein etwa dreißig Jahre alter Mann. Karsten leidet seit zwölf Jahren an Multipler Sklerose. Der ehemalige Fußballer ist fast blind, kann kaum noch sprechen und sich allein nicht mehr bewegen. Mutter Margarete und ihre Tochter haben Karsten schon ausgezogen, denn das ist nur noch zu zweit zu bewältigen.
Es war die Schwester, die den Anstoß gab, als der Schwerkranke sexuelle Wünsche signalisierte, mit Sexualbegleiterin Nina de Vries Kontakt aufzunehmen. Der Mutter fiel die Entscheidung anfangs schwer. Jemanden ins Haus holen, der für Geld ihrem kranken Sohn erotische Streicheleinheiten bietet?
Ein wenig später hat Nina de Vries Kerzen und Räucherstäbchen angezündet. Sie massiert Karstens Schulter und einen Arm. „Ist das angenehm für dich?“, fragt sie ihn, der nur mit einem knappen Ja und Kopfnicken antworten kann. Das Gesicht bleibt stets regungslos. Deshalb muss die gebürtige Holländerin immer wieder nachfragen, ob das, was sie gerade mit und am Körper des bewegungsunfähigen Mannes macht, für ihn überhaupt fühlbar und wenn ja, auch schön ist. Die noch bekleidete Frau mit langen braunen Haaren streichelt seine Ohrläppchen. Dann streicht sie mit einem leichten Tuch über seinen ganzen Körper, hat nur noch einen Slip an, führt Karstens Hand zu ihrem Busen, an die Hüften, ihre Schenkel. Später wird sie gänzlich nackt auf Karstens nacktem Körper liegen, ihn immer wieder auf verschiedenste Weise berühren, mit ihm reden, mit ihm lachen.
All dies ist in einem Fernsehfilm zu sehen. Mutter und todkranker Sohn selbst hatten nichts gegen die Aufnahmen und eine Ausstrahlung im dritten Programm des SWR einzuwenden. Im Gegenteil. Sie wollten zeigen, was die Arbeit von Nina de Vries bewirken kann. „Karstens Augen leuchten wie sonst nie, sein Gesicht ist offener“, erzählt seine Mutter, „sein ganzer Körper ist danach entspannt.“
Ortswechsel: In der Potsdamer Wohnung der Sexualtherapeutin plätschert der Zimmerspringbrunnen leise vor sich hin, ein Räucherstäbchen verströmt den Duft von Sandelholz. Besinnliche Musik erfüllt den Raum, in dessen Mitte ein Futon liegt. Der 35-jährige geistig behinderte Frank strahlt über beide Ohren. Er hat noch nie in seinem Leben eine Frau umarmen, geschweige denn streicheln können. Und wurde selbst noch nie von Frauenhänden berührt, von professionellen Pflegemaßnahmen mal abgesehen.
Seit vier Jahren arbeitet Nina de Vries als Sexualbegleiterin für Behinderte, seit zwei Jahren ausschließlich für geistig Behinderte. Ihr Angebot gilt auch für Frauen, wurde aber bislang nicht genutzt. Die Potsdamerin leistet Pionierarbeit: umarmt, streichelt, massiert, kitzelt; lässt umarmen, streicheln, massieren, kitzeln – bereitet behinderten Menschen ein intensives erotisches Erlebnis, oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Oral- oder Geschlechtsverkehr bietet Nina de Vries nicht an; wenn gewünscht, bringt die 40-Jährige die Männer mit der Hand zum Orgasmus. Im Vordergrund steht das für viele Behinderte nicht alltägliche Ereignis, von einer Frau berührt zu werden, sie selbst berühren zu können.
„Ich als Nichtbehinderte bin genauso verletzlich und voller Sehnsucht wie die Behinderten, mit denen ich arbeite“, sagt Nina de Vries. Sie glaubt, dass Menschen auf der Erde sind, um Erfahrungen zu sammeln. „Dazu brauchen wir ein Gefährt, unseren Körper. Wir sind aber nicht unser Körper, wir haben ihn, ein unfassbares Geschenk, egal ob behindert oder nicht.“ So betrachtet, ist auch der „allerbehindertste Körper ein absoluter Schatz“. Mit dieser Ehrfurcht kann die Sexualbegleiterin einen behinderten Körper berühren. Er ist dann nicht mehr krumm und schief oder krank, „sondern ein lebendiges Wunder, das sich nicht einfach einordnen lässt. Genau wie mein eigener Körper, von dem ich sowieso nicht weiß, wie lange er noch ,unbehindert‘ bleibt, egal, wie stark ich mich auch um ihn kümmere.“
Nina de Vries lebte jahrelang in einer therapeutischen Gemeinschaft in den Niederlanden, die von buddhistischen Elementen inspiriert war – „einer Schule in der Kunst, ein Mensch zu sein“, wie sie sagt. Vor elf Jahren nach Berlin gezogen, wohnt sie seit 1999 in Babelsberg, war künstlerisch tätig, schuf Skulpturen, Cartoons und Spiele und arbeitete 1992 ein Jahr als Erzieherin in einem Berliner Rehabilitationszentrum. „In dieser Zeit konnte ich meine Berührungsängste gegenüber Behinderten abbauen.“ 1994 arbeitete Nina de Vries sechs Monate in einem Massagestudio, seitdem empfängt sie ihre Klienten für erotische Massagen in eigenen Räumen.
Als immer mehr körperbehinderte Männer zu ihren Kunden gehörten, kontaktierte sie Hydra, den Verein Berliner Prostituierter, der dann entsprechende seriöse Kontakte vermittelte. Erotische Massagen für geistig und körperlich Behinderte erwiesen sich als „Marktlücke“. Nina de Vries leitet auch Seminare für Behinderte unter anderem in Zusammenarbeit mit dem körperbehinderten Diplompsychologen Lothar Sandfort, und bietet Fortbildungen für MitarbeiterInnen von Behinderteneinrichtungen an. Die Arbeit hat für sie auch einen großen selbsttherapeutischen Aspekt: „Ich bin viel empfindsamer für das geworden, was mit mir passiert, habe eine bessere und feinere Wahrnehmung für meinen Körper und mein Seelenleben gewonnen.“ Dabei bewundert die Sexualbegleiterin ihre Klienten, weil sie den Mut haben, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, sich ihren Händen anzuvertrauen.
Doch bis Frank und andere Behinderte mehr oder minder regelmäßig – was einmal im Monat oder weit größere Zeitabstände meint – bei Nina de Vries Umarmungen und Streicheleinheiten empfangen, ist es ein weiter, mitunter komplizierter Weg. Denn noch ist weitgehend tabu, dass auch Behinderte sexuelle Wünsche verspüren und diese auch ausleben wollen. Kommt es nicht dazu, ist dieser Gefühlstau womöglich Ursache für Aggressionen gegen die Betroffenen, gegen Familienangehörige oder Betreuungspersonal.
Haben Eltern oder Betreuer die emotionale Hürde genommen, ist Geld oft ein weiteres Problem. Viele Behinderte oder deren Familien sind nicht finanzkräftig genug, um die Sitzungen allein zahlen zu können. Gesundheitsämter oder Krankenkassen sträuben sich in der Regel nach wie vor, die Kosten – rund 150 Mark für eine Sitzung – zu übernehmen. In den Niederlanden oder Dänemark ist dies längst der Fall.
Berlin könnte immerhin Vorreiter werden: Gerade hat ein Bezirksamt die Kosten für drei Stunden in Höhe von je 101 Mark (entsprechend dem Kostensatz für psychotherapeutische Behandlungen) für einen mehrfach schwerst behinderten Mann übernommen. Und damit sozusagen amtlich anerkannt, dass auch ein Behinderter erotische Bedürfnisse, dass die sexualtherapeutische Arbeit positiven Einfluss auf dessen Wohlbefinden und Entwicklung haben kann. Nina de Vries freut sich, dass das Bezirksamt die Kosten übernimmt. Sie ist jedoch dagegen, dass die Sitzungen durch die Krankenkassen bezahlt werden, „weil es nicht um eine Krankheit oder Störung geht. Es handelt sich um ein menschliches Bedürfnis, so wie Essen, Trinken, Schlafen.“
Karstens Mutter erzählt im Film davon, wie sie einer Bekannten von ihrem Sohn und Nina berichtete. Wozu Prostituierte doch alles gut sind, lautete die Antwort. Doch das Wort stört sie, so kann man einen „Menschen, der für einen behinderten Menschen auf diese Weise da ist“, einfach nicht nennen. „Zu solch einer Arbeit gehört eine Menge Lebenserfahrung.“ Nina de Vries hat Karsten zwei Jahre lang monatlich besucht. Vor einem Jahr ist er gestorben. Im Film resümiert seine Mutter: „Viele können sich die Arbeit von Nina leider wohl nicht leisten. Es wäre schön, wenn die sexualtherapeutische Arbeit mit Behinderten staatlich gefördert würde. Jeder Mensch hat seine Bedürfnisse. Warum darf ein Behinderter sie nicht haben beziehungsweise auf die Erfüllung vergebens hoffen?“
ANDREAS HERGETH, 34, ist seit neun Jahren Berliner. Seine geistig behinderte Schwester lebt in einem Wohnheim für Behinderte in seiner Heimat Mecklenburg. Für sie und ihre sechzig MitbewohnerInnen hofft er, dass sich möglichst viele Menschen, die professionell mit Behinderten in Deutschland arbeiten, sexualtherapeutisch weiterbilden lassen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen