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■ GlosseEin kleiner Vorgeschmack

Alle vier Jahre zu den Olympischen Spielen erkennen die Deutschen: Die Welt besteht nicht nur aus den USA und der EG. Medaillengewinner aus Usbekistan und der Mongolei erzwingen Aufmerksamkeit. Und meist können „die Exoten“ mit Sympathie rechnen. Ist in Ordnung, wenn die eine oder andere der 271 Goldmedaillen über den Globus verteilt wird und Indonesien dank eines „Ausnahmeathleten“ nicht ganz mit leeren Händen dasteht. Gleichzeitig ist für Kurzweil gesorgt, wenn Reporter Überraschungssiegerinnen aus Äthiopien oder Syrien interviewen und uns mitteilen: „Das sind ja Menschen wie du und ich. Die können sogar denken.“ Aber das Spiel „Solidarität mit den Underdogs“ hat seine Grenzen. Die deutsche Ausbeute in Atlanta: 0 Gold-, 27 Silber- und 39 Bronzemedaillen. Das ist Platz 47 der Nationenwertung. Fragt sich: Wie reagiert der aufgeklärte Bundesbürger, wenn er Deutschland hinter Costa Rica und der Türkei wiederfindet? Wieviel Spaß macht der Internationalismus, wenn die „natürliche Rangordnung“ bedroht ist?

Tatsächlich wurden die Gesichter in den ersten Tagen der Olympischen Spiele ja auch länger. Stets waren die anderen einen Tick schneller, einen Deut stärker. Nach fünf goldmedaillenlosen Tagen war das Bewußtsein vieler Deutscher reichlich angefressen. Auf jeden Fall zeigte sich, daß zivile Standards wie Fairness, Offenheit und Toleranz recht schal und öde sind, sie, nur aus einer unangefochtenen Position der Dominanz und der Überlegenheit genossen wirklich Spaß machen.

Mit anhaltendem Mißerfolg wurden die Kommentare gehässiger. Tenor: Mit rechten Dingen kann das nicht zugehen, wenn die Kleinen größer werden. Einzige Erklärung: Der chemisch unverseuchte, reine deutsche Athlet mußte sich den verschlagenen Tricksern und Betrügern aus dem Fernen Osten beugen. Wären die Goldmedaillen tatsächlich ausgeblieben, hätte es ungemütlich werden können. Die Forderung nach internationalen Einsätzen bundesdeutscher Anti-Doping-Greiftrupps – zum Schutz der Zwangskontaminierten vor Ort natürlich – wäre lauter geworden. Ein ganz kleiner Vorgeschmack war's, was auf uns zukommt, wenn Deutschland in wenigen Jahren ins Mittelfeld der Industrienationen zurückgefallen sein wird und das Selbstwertgefühl der Bürger gemeinsam mit dem Wechselkurs der D-Mark in den Keller geht. Eberhard Seidel-Pielen

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