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Ein hohes Lob auf die Unordnung

■ Im Land der Ordnung läuft längst nicht alles wie geschmiert/ Selbstversuch eines Parisers in Berlin

Paris/Berlin (taz) — Tagelang sprach man in den Pariser Cafés bei einem Gläschen Roten oder Calvados nur von einem: den Anfangsschwierigkeiten beim Inter-City-Express. Die Superstars der Technik haben völlig versagt. Für die Franzosen, die auf ihren TGV so stolz sind, war dies eine gute Gelegenheit, ihren Chauvinismus herauszukehren. Aber nicht nur das. Man war auch völlig überrascht und erfreut, daß im Land der Ordnung Unordnung herrscht. Zwei Jahre nach dem Fall der Mauer und dem folgenden Wirtschaftschaos sind sich die Franzosen sicher: Das Deutschland der Unternehmen und der Banken ist immer noch ein gut geöltes System, eine Art französischer Garten der Wirtschaftsordnung. Deshalb erregen eine Vielzahl kleiner Ungereimtheiten, die hier niemanden sonderlich überraschen, in Frankreich eine beträchtliche Neugierde, die sich durchaus mit Sympathie mischt.

Zunächst gibt es da all die Probleme, die mit der Wiedervereinigung zusammenhängen, wie etwa der Jahrhundertstau, der am vergangenen Sonntag den Verkehr auf den deutschen Autobahnen lahmgelegt hat. Viele meiner Landsleute schmunzeln, wenn sie ihre Nachbarn in unendlichen Autokolonnen stehen sehen; die gleichen Franzosen, die zu gewissen Zeitpunkten, so am 1. August, alle gleichzeitig in den Urlaub fahren. Und erst die Post: Zeitungen werden um elf Uhr ausgeliefert, der Postbote braucht manchmal eine Ewigkeit, um anzukommen. Kurz, es ist wie in Frankreich!

Aber nicht alle Probleme hängen mit der Wiedervereinigung zusammen. Es sind vielleicht die vielen kleinen Ungereimtheiten des täglichen Lebens, die eure Nachbarn jenseits des Rheins am meisten überraschen. Das erste, was die Franzosen mit herablassender Miene in Deutschland aufsuchen, ist der Supermarkt. Mit einer erstaunlichen Unregelmäßigkeit ist eine bestimmte Ware mal erhältlich, mal fehlt sie. Aber das Unglaublichste: Warum gibt es beim großen Wochenendeinkauf am Samstag morgen immer weniger Einkaufswagen als Kunden?

Und noch eine Überraschung für den Durchschnittsfranzosen: die Banken. Ah, die Banken! Mit Bewunderung und Vergnügen betrachten wir diese mächtigen Maschinen, aus denen sich Milliarden von Mark in die Wirtschaft des großen Deutschlands ergießen. Kein Zweifel: die deutschen Institutionen funktionieren nahezu perfekt. Bis zu dem Tag, an dem der Auslandsfranzose bei einer Bank ein Konto eröffnen will. Bei sich zu Hause kann er sein Konto ewig überziehen, notfalls sagt er dem Beamten am Schalter eben: „Wenn Sie mich nerven, wechsle ich den Laden.“ Man muß es nur mit Stil tun. Hier aber merkt er, daß er zu sparen hat. Der Kunde König ist ein unbekanntes Wesen. Am Samstag morgen steht man in Berlin zehn Minuten Schlange, um Geld aus dem Automaten zu ziehen, und die Bank berechnet dafür eine Mark fünfzig. In Paris sind am Samstag die Schlangen vor den Geldautomaten genauso lang. Doch wenigstens kostet es nichts. Philippe Boulet-Gercourt, Frankreich

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