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Archiv-Artikel

Ein expressionistisches Metropolis

„Sunrise – A Song of Two Humans“ von Friedrich Wilhelm Murnau wird im Kino 46 aufgeführt

„Ein Lied von zwei Menschen“ ist eine seltsame Gattungsbezeichnung für einen Stummfilm! Aber tatsächlich ist „Sunrise“ von Friedrich Wilhelm Murnau eher ein lyrisches als ein dramatisches Werk.

Dabei bietet der Film beim ersten Blick tiefstes Melodrama: Die „Frau aus der Stadt“ verführt den „Mann“ dazu, die „Frau“ auf einer Bootsfahrt zu ertränken. Dass die Figuren namenlos bleiben, ist schon ein Hinweis darauf, dass hier kein Eifersuchtsdrama, sondern eine universelle Geschichte erzählt wird.

Auf der „Reise nach Tilsit“ (so der Titel der literarischen Vorlage von Hermann Sudermann) bringt es der Mann dann nicht übers Herz, seine Frau zu töten, und im fröhlichen Getümmel der Großstadt verlieben die beiden sich neu ineinander. Doch auf der Rückfahrt über das Meer kommt ein Orkan auf, und der Mann kann nur sich allein ans Ufer retten. Gibt es das vom Publikum so geliebte Happy End oder das dramaturgisch logische bittere Ende? Diese Gretchenfrage Hollywoods stellte sich auch schon 1927 bei diesem ersten Film des deutschen Regisseurs in der Traumfabrik. Dass „Sunrise“ dann ganz unabhängig von dieser Entscheidung an den amerikanischen Kinokassen floppte, hatte zum einen mit dem Aufkommen des Tonfilms im gleichen Jahr zu tun, aber wohl auch mit Murnaus radikaler Vision, die ihrer Zeit um Dekaden voraus war.

Denn das Drama handelt er eher hastig in einem jeweils kurzen ersten und letzten Akt ab. Dabei ist jedoch die Verführung des Mannes durch das Stadtflittchen im vom Mond beschienenen Sumpf eine der sinnlichsten Sequenzen der frühen Filmgeschichte, die höchstens noch durch jene von Louise Brooks in „Die Büchse der Pandora“ übertroffen werden.

Aber der Kern des Film ist der Ausflug der Landeier in die große Stadt, die als ein beinahe paradiesischer Sehnsuchtsort gezeichnet wird, in dem die beiden sich wie befreit miteinander vergnügen können und die Last des Alltags in der dunklen, engen Hütte auf dem Hof daheim zu vergessen scheinen. Murnau feiert hier das moderne Leben mit Straßenbahnen, Jazz, einem Rummelplatz und dem bescheidenen Luxus eines Friseursbesuchs. Hier kann den beiden nichts geschehen: selbst wenn sie sich mitten auf der Straßenkreuzung küssen, bricht zwar der Verkehr zusammen, aber sie laufen vergnügt davon.

In diesem (ganz anders als bei Fritz Lang) utopischen Metropolis, das Murnau mit großem Aufwand im Studio bauen ließ, besingt er mit seiner Kamera die Liebe der beiden und dafür fand er einen Weg, ihre Stimmungen und Gedanken in Bildern auszudrücken. In Doppelbelichtungen sieht man etwa, wie der Mann von zwei geisterhaften Schemen der Frau aus der Stadt eingehüllt wird. Heute kann man alles mit einem Bild machen, aber damals hatte es solche optischen Spezialeffekte (die in der Kamera selber zusammengesetzt werden mussten, weil es noch keine Postproduktion im Labor gab) noch nie zuvor gegeben. Durch diese expressionistische Kameraarbeit, durch stimmungsvolles Licht und die Art der Einstellungen erreicht Murnau eine immense poetische Tiefe.

Für viele Cineasten ist „Sunrise“ der schönste Film der späten Stummfilmära, genauso wie Murnaus „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ als der (im besten Sinne des Wortes) schrecklichste Horrorfilm gefeiert wird. Und anders als die meisten Filme aus jener Zeit ist er gut gealtert, sodass er heute nicht wie ein Museumsstück daherkommt, sondern im Kino immer noch erstaunlich intensiv wirkt.

Wilfried Hippen

„Sunrise“ wird am Sonntag um 20.30 Uhr mit Live-Klavierbegleitung durch Ezzat Nashashibi gezeigt