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Ein deutsches Trauerspiel

Monika Marons ferne Erinnerung  ■ Von Bernd Kempker

Gedenken Sie an den alten Vetter, im Kaufmann von London: Wenn ihn Barnwell ersticht, entsetzen sich die Zuschauer, ohne mitleidig zu sein, weil der gute Charakter des Alten gar nichts enthält, was den Grund zu diesem Unglück abgeben könnte. Sobald man ihn aber für seinen Mörder und Vetter noch zu Gott beten hört, verwandelt sich das Entsetzen in ein recht entzückendes Mitleiden.“

Gotthold Ephraim Lessing ist es hier, der in einem Brief an Moses Mendelssohn solch elementare Wirkung des Theaters als Vorbild für das deutsche Trauerspiel entdeckt. Klar erkennt sein pietistisch geübter Blick den raffinierten Kunstgenuß, den diese Szene gewährt.

Rund 240 Jahre später ist jetzt ein Roman erschienen, der als neues deutsches Trauerspiel diese Tradition beerbt und sich wohl naturgemäß einer großen Wirkung erfreuen wird. Die Ich-Erzählerin begegnet einem Stellvertreter derjenigen Macht, die ihr ganzes bisheriges Leben „verdorben“ hat. Ein großer Kampf mit dem häßlichen Bösen hebt an (sie läßt sich als seine Sekretärin einstellen), doch Haß wandelt sich zu Verständnis und der Traum, sein Zungenbein einzudrücken, weicht dem Instinkt des Mitleids, der Erkenntnis eigener Schuld. Am Ende heißt es: „Der werfe den ersten Stein...“

Welcher Zuschauer geht da nicht in die Knie? Lessing triumphiert. „Und nur diese Tränen des Mitleids und der sich fühlenden Menschlichkeit sind die Absicht des Trauerspiels.“

Wie, fragt sich das Publikum, konnte eine so beschlagene Autorin wie Monika Maron mit ihrem jüngsten Buch Stille Zeile Sechs in diese Affekthascherei geraten?

Wer ihren letzten Roman Die Überläuferin gelesen hat, ist jetzt im Vorteil: Er kennt schon die Erzählerin Rosalind und die wichtigsten Faktoren ihrer Krise in der Mitte des Lebens. Den gekündigten Arbeitsplatz von sieben Uhr fünfundvierzig bis siebzehn Uhr in der historischen Forschungsstätte Barabas. Die Kneipengegenwelt der Bildung und Freiheit mit Bruno und dem Grafen. Männers only. Und gleich nach dem „Unglück“ von Geburt und Kindheit die Stelle, wo Rosalind der Pietät und ihrem leichenstarren Vater hilfsbereit die Tür aufhält. „... die Antwort war ausgeblieben und konnte nun nicht mehr erfolgen. Ich hätte ihn lieben wollen, bis gestern; heute war er tot.“ Um eine solche Antwort dreht sich Stille Zeile Sechs und handelt von einer stellvertretend geführten Auseinandersetzung mit dem memoirenschreibenden Stasi-Funktionär Beerenbaum.

Aber nicht nur der Stoff hat seinen Keim in Die Überläuferin, auch für das Wie des jüngsten Romans findet sich die Vorgabe. Dort, in der Überläuferin, sagt so ein Killer von der „Assoziation dichtender Männer“ zur Schriftstellerin: „Die Sprache ist keine bunte Wiese, Madame.“ Gehorsam beginnt Stille Zeile Sechs mit einem Bilderbuchsatz aus der Schulbibliothek. „Beerenbaum wurde auf dem Pankower Friedhof beigesetzt, in jenem Teil, der Ehrenhain genannt wurde und in dessen Erde begraben zu werden der Asche so bedeutender Personen wie Beerenbaum vorbehalten war.“ Das ganze Buch keine Schwäche; elegantes, klares Deutsch voller Sinn und Form bis zum bedeutsamen letzten Satz. Keine fade Stelle. Alles, was man zum Lesen braucht, Humor, Ironie, Ernst, Detail und Horizont.

Ein metaphorischer Dominostein ist Beerenbaums Zungenbein, dort könnte nämlich die Sprache (wichtiger Stein) und Ordnung des Vaterlands eingedrückt werden. Doch Beerenbaum stirbt eben nicht durch Rosalinds Hand und entsprechend sind Sprache und Form kein Problem. In Die Überläuferin waren sie eins: „Wie sollte sie so schnell auch ein anderes Denken lernen, dachte sie, Denkwege sind wie Straßen, gepflastert und betoniert ... Geheimpfade, Schleichwege, unterirdische Gänge und Gebirgsgrate brauchte sie.“ Der Ausweg bei diesem Roman führte durch Erinnerungen Träume, eine Identitätsspaltung, Fantasien, dadaistisches Theater. Allerdings, ein Handicap hatte das lesenswerte Buch, es war so formlos, weiblich?, mit einem tanzenden Mond vorne und hinten dem Wunsch nach einem Bad im Regen. Das schüchtert keinen Killer von der „Assoziation dichtender Männer“ ein. Wie war das bei Benn? Form ist Zucht und Ordnung. Nur betonierte Wege führen zu Autorität — und Macht, aus der Kunst.

Mit Stille Zeile Sechs ist ein solcher Weg der Form und gesicherten Anerkennung eingeschlagen. Ein „anderes Denken“ ist nicht mehr gefragt. Und die vorgegebene Auseinandersetzung mit Vater Staat und Sprache wirkt wie die falschen Säulen auf den klassizistischen Fassaden in Karlsruhe. Wichtiger noch als die äußere Auseinandersetzung wäre die zugehörige innere mit der „Geschichte im Ich“ wie es Ingeborg Bachmann nannte. Doch die Ich-Erzählerin sieht lieber, auf mitunter herrisch-arrogante Weise, die Schwächen der anderen.

Gegenbeispiel: Die autobiographischen Bücher von Georges-Arthur Goldschmidt. Auch die Geschichte eines Opfers. Doch welch radikale Erinnerung spricht da nur von den Unterwerfungsphantasmagorien des Jungen, als sei er der erste Täter. Keine Masochismusplattheiten, aber war für eine grauenhafte Entdeckungsreise.

Rosalind dagegen lamentiert über „die Sehnsucht nach einer Tat“ und kokettiert mit der eigenen Schuld. „Es bringt mich um, daß ich so froh sein kann, wenn andere sterben.“ Damals nämlich Vater und jetzt Beerenbaum. Jede/r moralisch Geläuterte wird hier rufen: „Na los! Das Zungenbein!“, und dabei nicht an den Roman denken. Mit einem Mord wären Konstruktion und Mitleid futsch.

Wenn der Ausweg von Die Überläuferin „Formlosigkeit“ war, führt der Ausweg in Stille Zeile Sechs in die Empfindsamkeit. Daß Empfindsamkeit Ausdruck der Tabuisierung jedes Konflikts zwischen den Angehörigen einer Familie sei, darauf hat Peter Szondi hingewiesen. „Dem Konflikt wird abgeschworen, da man von der Güte des anderen überzeugt ist.“

Das Schuldthema mit Empathiefinale verdient sich unser aller „entzückendes Mitleiden“. Gerne fällt unser Denken diesem so edlen wie angenehmen Affekt zum Opfer. In beiden Büchern wirkt das Schuldthema wie ein Tick, bei den geringsten menschlichen Anlässsen lugt es hervor, um manchmal von Rosalind selbst als unangemessen zurückgestopft zu werden. Mag sein, dieser Tick hat seine traumatischen Quellen, Monika Marons jüngster Roman hat damit jedenfalls nichts zu tun.

Stille Zeile Sechs hinterläßt den Eindruck einer fernen fernen Geschichte. Sie ist so weit weg, daß sie simuliert werden mußte.

Monika Maron: Stille Zeile Sechs. Roman, 230 S., S. Fischer Verlag, geb., DM 34,- .

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