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Ein Stückchen Lindenstraße am Leibnizplatz

■ Die Bremer Shakespeare Company geht in die neue Spielzeit: Lectures, Lügen und Lesungen im Übermaß

Das Jubiläum ist vorbei, das Zehnjährige ausgiebigst mit spektakulären Aufführungen, Aktionen und Kooperationen in der ganzen Stadt gefeiert worden – wir erinnern nur an das ThéÛtre Repère in der Hojo-Halle – und wer meinte, jetzt würde Ruhe einkehren im Theater am Leibnizplatz, der irrt gewaltig. Die Bremer Shakespeare Company startet in ihre neue Spielzeit, und scheint der Novitäten gar nicht müde geworden zu sein. Im Gegenteil, „wir haben uns aufgefrischt durch die unzähligen wunderbaren Arbeitskontakte mit Gruppen und RegisseurInnen aus dem Ausland“, resümierte Norbert Kentrup von der Company jetzt das Spieljahr 93/94.

Große Zahlen wurden da notiert: 355 Veranstaltungen („auch wir haben nur 365 Tage insgesamt“) über 77.000 ZuschauerInnen („das entspricht einem Zuwachs von 20 Prozent“), darunter gerade zum Festival viele aus dem Umland („wir haben den Parkplatz beobachtet“). Für die 800.000 Mark Zuschuß vom Senat soll „auch ein Dank“ ausgesprochen werden, wenngleich niemand weiß, ob es diese Summe je wieder geben wird. Für die allgemein üblichen Theatergehälter, diese Rechnung gilt noch immer, bräuchte die Company jedenfalls eigentlich 1,5 Millionen Mark im Jahr.

Als symptomatisch will die Truppe den Titel ihrer jüngsten Reihe jedenfalls nicht verstanden wissen. Die Shakespeares beginnen ihren dichtgedrängten Theaterherbst Mitte September mit Sonetten ihres Namenspatrons: „Alles Lügen“. Lüge ist daran, daß die Sonette nicht als Rezitationstheater sondern eher wie ein „affektiertes Gespräch“ über Tod, Zeit und Liebe präsentiert werden. Lüge ist auch, daß das Publikum zur Premiere im Zuschauerraum sitzen wird, nein, es darf auf der Bühne Platz nehmen.

Ebenfalls neu im Programm und ebenfalls kein Stück, sondern ein „Spiel mit Texten“ ist dann Anfang Oktober „Ich, die Fliege“, ein Stück des portugiesischen Avantgardisten Fernando Pessoa, der lange vergessen war und erst seit Mitte der Achtziger hier verlegt wird. Die Company zeigt von ihm eine Art Tagebuchaufzeichung eines portugiesischen Buchhalters. Alles im Rahmen der „Dramatikerwerkstatt“, in der die Company immer mal wieder versucht, nicht-shakespearsche Texte mit der hauseigenen Spielweise zu verknüpfen.

Ins Shakespeare-Repertoire aufgenommen werden nächstes Frühjahr „Perikles“ und „König Cymbelin“, zwei späte Stücke des Elisabethaners, die als Vorarbeiten zum „Sturm“ gelten. Man strebt am Leibnizplatz an, die beiden Werke mit gleichem Bühnenbild, gleicher Musik, gleichem Ambiente zusammenzubringen. Und erträumt sich dafür (im Moment noch) ein großes 5-6-Stunden-Spektakel.

Das ist noch weit; schon diese Woche jedoch findet die nächste öffentliche „Shakespeare-Lecture“ statt. Der Trainer, Regisseur und Schauspieler Philippe Hottier weilt gerade am Leibnizplatz und arbeitet mit der Company daran, den Figuren des Theaters ihre menschlichen Züge abzugewinnen.

Noch auf zwei Kleinodien sei an dieser Stelle hingewiesen: Eine Zusammenarbeit mit dem Bremer Stint-Verlag ist angedacht, in der die Werke junger Bremer AutorInnen erstmals von Profis vorgetragen werden sollen. Und im Oktober nimmt Thomas Sarbacher die Falstaff Lese-Reihe wieder auf. Den Winter hindurch wird er jeden Dienstag abend ein Stückchen aus Flauberts Madame Bovary vorlesen. Man überliefert sich von früheren solchen Abenden heimelige „Lindenstraßen“-Atmosphäre. sip

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