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Ein Stofffürdie Ewigkeit

Das Chemiewerk in Bad Wimpfen wird Anfang 2026 aufhören, die Ewigkeits-Chemikalie Trifluoressigsäure in den Neckar zu leiten. Das klingt allerdings nur wie eine gute Nachricht. Denn das Gift hat viele Quellen. Es ist längst überall. Es bleibt für immer. Und wie es wirkt, werden wir erst noch lernen

Bad Wimpfen am Neckar: Unten im Tal steht die Chemiefabrik Foto: Marcus Lange/robertharding/laif

Aus Bad Wimpfen und Freiburg Benno Schirrmeister

Jetzt regnet’s auch noch, ausgerechnet, so ein Mist! Denn alles spricht ja dafür, dass über den Regen das Gift hierher kommt, auf den Hang hinter der Chemiefabrik. Das hatte auch Karin Haug vom BUND gesagt, und die ist in der Sache schon seit Jahren aktiv. Die Fabrik liegt unten an der Straße, nahe am Neckar. Links schimmert die Doppelreihe ihrer zehn Destillationstürme weiß durchs Geäst. Sie ähneln Silos, zwei tragen ein elegantes hellblaues S, das Logo des ­Solvay-Konzerns.

Direkt gegenüber recken sich die mittelalterlichen Türme der Ritterstiftskirche von Bad Wimpfen im Tal gen Himmel. Die Klosteranlage ist von hier oben kaum zu sehen. Der Hang ist zu dicht bewachsen und im Grunde ist es ohnehin Quatsch, hier auf der Suche nach den Waldquellen in Mörderbrombeeren und Weißdorn rumzurutschen. Einen Pfad zu den ominösen Betonbrunnenhäuschen gibt’s nicht, und dort angekommen, fehlt ein Schlüssel fürs rostfleckige Vorhängeschloss. Die Tür bleibt zu.

Nur: An einer dieser Quellfassungen war im vergangenen Herbst eine exorbitante Belastung des Wassers mit Tri­fluoressigsäure festgestellt worden, TFA, fast 320 Mikrogramm pro Liter. Das weitgehend unbekannte TFA ist eine „Ewigkeits-Chemikalie“. Es baut sich nicht ab. Es gilt als fortpflanzungsgefährdend, so viel weiß man mittlerweile, also als „reproduktionstoxisch, Kategorie 1B: Kann das Kind im Mutterleib schädigen. Kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen“, so der amtliche Eintrag.

Zugleich ist es laut Umweltportal Baden-Württemberg derjenige menschengemachte Stoff, der mittlerweile im Grundwasser am häufigsten gefunden wird. Und 320 Mikrogramm, das ist das Fünffache des deutschen „gesundheitlichen Leitwerts“ für Trinkwasser. Was der rechtlich heißt, bleibt vage. Vor allem ist er vergleichsweise lasch: In den Niederlanden und in der Wallonie, also dem französischsprachigen Teil Belgiens, wo Solvay ja herstammt, wird Trifluoressigsäure als Gesundheitsgefahr ernster genommen. Dort darf Trinkwasser höchstens 2,2 Mikro­gramm enthalten.

Aber Bad Wimpfen liegt ja in Deutschland, und ohnehin gehört der Brunnen nicht zum Trinkwassersystem. „Was Trinkwasser angeht, sind wir in Bad Wimpfen absolut safe“, sagt Bürgermeister Andreas Zaffran (CDU) im Gespräch mit der taz im Rathaus. Den größten Teil seines Trinkwassers beziehe die Stadt vom Bodensee. Und die drei Quellen, wo der Rest herstammt, die liegen ganz auf der anderen Seite von Bad Wimpfen, Zaffran macht eine Geste gen Nordwesten, „mindestens zwei Kilometer von der betroffenen Quelle entfernt“, außerdem noch mal rund 100 Meter höher. Eine Kontamination lässt sich ausschließen.

Trotzdem ist etwas in Bewegung gekommen, als im Frühjahr diese Messergebnisse durchgesickert waren. Nach einer nicht öffentlichen Befassung im Gemeinderat hatte das regionale Online-Magazin Kontext darüber geschrieben, der SWR war aufgesprungen, die Heilbronner Stimme auch.

Das berührt die Identität des Ortes. Das historische Bad Wimpfen ist im Wesentlichen dreigeteilt: Es besteht aus Wimpfen im Tal mit der gotischen Kirche am Neckar und aus Wimpfen am Berg. Dort stehen Kaiserpfalz, Rathaus, Cafés und die Geschäfte. Den Platz dazwischen besetzt, wie ein eigener Stadtteil, die Fabrik. Das Chemiewerk, vor über 100 Jahren aus der Saline hervorgegangen, gehört hier einfach dazu. Man lebt mit ihm.

Bad Wimpfen war beunruhigt, ja aufgeschreckt. Der BUND hatte Info-Veranstaltungen gemacht, auch eine große Diskussion, und als Experte war der Chemie-Professor Michael Müller aus Freiburg angereist. Es war einer der wirklich heißen Tage im August gewesen. Die Hütte war voll.

Manchen ging das zu weit. Da sei auch „etwas Panik geschürt worden“, sagt Axel Obermeyer vom Nabu Bad Friedrichshall, Ortsgruppe Bad Wimpfen. „Die Leute hören hier TFA und sind nur noch verzweifelt.“ Zumal kein Lösungsansatz benannt worden sei. „Mir fehlt da die Ausgewogenheit.“ So hatte Kontext TFA als „besonders aggressiv“ bezeichnet. Dabei handele es sich bei dem Stoff ja „um einen eher harmlosen Vertreter“, als Doktor der Chemie kennt er da ganz andere Gifte.

Tatsächlich liegt die mittlere tödliche Dosis (LD50) von TFA bei über 200 Milligramm pro Kilo Körpergewicht; bei Arsenik beträgt dieser Wert 1,4 Milligramm, bei Rizin sogar 3 Mikrogramm. Außerdem, so Obermeyer, handle es sich bei Solvay um einen der „reputabelsten Hersteller von Fluorchemie in Deutschland“. Tatsächlich spielt es für den Wasserkreislauf keine Rolle, wo TFA produziert wird. Der ist schließlich global.

Und dann hat das Management des Konzerns den Stecker gezogen. Gerade, als die Wimpfener Waldquellendiskussion Fahrt aufnahm und sich Anfang September auch noch die Deutsche Umwelthilfe mit einer Klagedrohung zu Wort gemeldet hatte, hat es versprochen auszusteigen. Solvay, das immerhin viertgrößte Unternehmen Belgiens, werde das Kapitel Tri­fluoressigsäure beenden, und zwar for good. Man werde „by early 2026“, so Solvay-Sprecher Peter Boelaert, die „Produktion von TFA und all seinen Derivaten konzernweit eingestellt haben“. Gleichzeitig schließt man das Werk im niedersächsischen Garbsen mit 40 Mitarbeitern und baut in Wimpfen 100 der 240 Stellen ab. Alles eine Reaktion auf den aufkeimenden ­lokalen Protest?

Mit diesem harten Schnitt hatten die Ak­ti­vis­t*in­nen von BUND und Umwelthilfe kaum gerechnet. Dann aber, wer will es ihnen verdenken, hatten sie den Einspeiseverzicht schon gern auch als Erfolg verbuchen wollen. „Unser jahrelanger beharrlicher Einsatz gegen die Verseuchung unserer Umwelt durch Ewigkeits-Chemikalien scheint sich in Bad Wimpfen in Teilen auszuzahlen“, hatte die BUND-Landesvorsitzende Sylvia Pilarsky-Grosch mitgeteilt.

In Wimpfen hat das Gerücht Kurs, BUND und Umwelthilfe wären Schuld am Stellenabbau. Das Unternehmen aber widerspricht der Erzählung: „Die Entscheidung, organische Fluoride, die auf TFA basieren, auslaufen zu lassen, ist Teil einer umfassenderen strategischen Portfolio-Optimierung“, so Boelaert.

Das ist plausibel. Seit gut drei Jahren lässt sich der Umbau verfolgen. Dem Kurs der Aktie schadet er nicht. Denn weltweit ändern sich gerade die Rahmenbedingungen. Schon 2023 hatte der ungleich größere amerikanische Chemie-Konzern 3M versprochen, sich weltweit aus der Herstellung von „Ewigkeits-­Chemikalien“ zurückzuziehen. Gerade hatte das Unternehmen in den USA einen Vergleich über 12,5 Milliarden US-Dollar mit Wasserversorgern geschlossen, ein ziemliches dickes blaues Auge. Zudem hatte es noch mit etwa einer weiteren Milliarde Prozesse in den Staaten Alabama, Michigan und Minnesota weggedealt, und auch in New Jersey. Dort hat auch Solvay zusagen müssen, an die Staatskasse 393 Millionen Dollar für die Beseitigung seiner Schadstoffe zu überweisen.

In Europa sind die Summen noch nicht so hoch. Aber das kann noch kommen. In Belgien beschäftigt das Thema die Zivilgerichte. Und in Italien wurden die elf Manager des Konzerns Miteni im Sommer zu 141 Jahren Knast verurteilt, weil der große Teile des Veneto mit Ewigkeits-Chemikalien verseucht hatte.

Zwar sichern die deutschen Wirt­schafts­mi­nis­te­r*in­nen den Herstellern gleichsam freies Geleit zu. Aber über die Donau strömen aus Baden-Württemberg und Bayern erhebliche TFA-Mengen nach Österreich, Ungarn, über den Balkan und bis in die Westukraine. Mindestens jeder Staat ist ein möglicher Kläger. Und der Neckar fließt in den Rhein, der das Gift in die Niederlande bringt. Dahin, wo die Grenzwerte so streng sind.

„Also Sie werden da nicht viel sehen können“, hatte Karin Haug vom BUND Regionalverband Heilbronn-Franken gewarnt, der gut neun Jahre gegen Solvays TFA-Einleitung in den Neckar gekämpft hat. Nicht viel heißt konkret nichts. Bis oben auf die Altenberger Schanze, von deren Rand der Hang mit den Quellen zur Fabrik abfällt, war die promovierte Chemikerin freundlicherweise mitgestiefelt, durchs verwunschene Tal.

„Das ist die Mersch oder manche hier nennen sie auch den Mörschbach“, hatte Haug den lieblich plätschernden Wasserlauf vorgestellt. „Die hat so 30 Mikrogramm pro Liter.“ Merkt man ihr nicht an. Wie auch: Mikrogramm, also millionstel Gramm, das ist ohnehin eine Gewichtsklasse, die sich dem bloßen Auge entzieht. Aber auch in größeren Mengen macht TFA optisch nichts her. Es ist farblos und wasserlöslich, eine schwer fassbare Substanz. Eine, die lange für unbedenklich erklärt worden war. Selbst die neue Trinkwasserverordnung, die am 12. Januar in Kraft tritt, begrenzt zwar die Konzentration anderer, komplexerer Ewigkeits-Chemikalien, nicht aber die von TFA.

Das Problem an TFA ist: Die Substanz ist sehr mobil. Sie verbreitet sich rasend schnell über den Wasserkreislauf und akkumuliert in Organismen, um dann schließlich irgendwann als Gift zu wirken, nicht jetzt, auch nicht morgen. Sie hat dafür aber auch alle Zeit der Welt: TFA gehört zum Haltbarsten, was Menschen je geschaffen haben. Von allein zerfällt es gar nicht.

Es ist, ganz im Gegenteil, das, wozu viele andere Ewigkeits-Chemikalien, die berüchtigten PFAS, allmählich abbauen: TFA ist historisch der Anfang und perspektivisch das Ende dieser „Poly- und Perfluorierten Alkylischen Substanzen“. Es verkörpert ihre Ewigkeit. Daher findet es sich längst in allem, im Gemüse, in Getreide, es reichert sich im Obst an, in Wirbellosen am Meeresboden und, anders, als lange gedacht, im Bluteiweiß der Säugetiere; also auch beim Menschen.

Wie genau TFA dort wirkt, werden wir erst noch lernen. Im Tierversuch hat es Missbildungen bei Kaninchen-Embryos verursacht. „TFA is in fact bioactive“, hat eine Arbeitsgruppe um den Chemie-Professor Reza Ghadiri am Scripps-Institut in La Jolla, Kalifornien, Anfang des Jahres festgestellt. Es verursache „dramatische biologische Effekte in mehreren gezüchteten Stämmen menschlicher Leberzellen“. Damit bestätigt er die kurz zuvor veröffentlichten Ergebnisse der Biochemikerin Aleksandra Đurđević Đelmaš und ihrer internationalen Forschungsgruppe an der Uni Belgrad.

In Italien wurden die elf Manager des Konzerns Miteni zu 141 Jahren Knast verurteilt, weil der große Teile des Veneto mit diesen Chemikalien verseucht hatte

Die weltweite Diskussion um TFA hatte Ende Mai auch in Deutschland zu einer veränderten Gefahreneinstufung geführt und das war dann in den Medien Thema. Doch meist bleibt es eine abstrakte Debatte. Im hübschen Bad Wimpfen, gerade erst beim Travelbook Award zur schönsten Altstadt Deutschlands gekürt, hatte sie sich durch die Waldquellen für einen Moment konkretisiert. Jetzt ist damit Schluss. Es könnte Ruhe einkehren in der kleinen Stadt.

Ruhe ist allerdings das, was der Freiburger Chemie-Professor Michael Müller fürchtet. „Noch so ein Sieg und wir sind verloren“, so schätzt Müller den Vorgang ein. Das ist ein klassisches Zitat. Geschichtserzähler Plutarch hat es dem König Pyrrhus als Kommentar zu einer gewonnenen Schlacht in den Mund gelegt. Den Triumph hatte sein Volk so teuer erkauft, dass es danach den Römern nichts mehr entgegensetzen konnte. Es war ein Pyrrhus-Sieg.

„Das Schließen des Abflussrohrs in Bad Wimpfen hält uns davon ab, richtige Aktionen anzugehen“, so Müllers Sorge. Denn dadurch entstehe der Eindruck: Jetzt haben wir was erreicht. „In Wirklichkeit haben wir gar nichts erreicht.“ Das ist erklärungsbedürftig. Und Müller kann sehr gut erklären. Also heißt es: runterfahren nach Freiburg.

Wann die Geschichte mit TFA begonnen hat, lässt sich recht präzise sagen. TFA ist eine künstliche Substanz: Es ist Essigsäure, bei der die sonst an einem Kohlestoff gebundenen drei Wasserstoff-Atome durch drei Fluor-Atome ersetzt wurden. Genau das hat sich Frédéric Swarts vorgenommen. Nach einem Verfahren dafür forscht er von 1895 an, also noch bevor er den Lehrstuhl für Organische Chemie an der Uni Gent von seinem Vater geerbt hat.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg, am 3. Juni 1922 tritt er, mittlerweile Vize-Präsident der Internationalen Chemiker-Vereinigung und seit 1919 auch Präsident des Institut International de Chimie Solvay, vor die Kollegen der königlich-belgischen Akademie. Er hat einen Erfolg zu vermelden.

Swarts war bestimmt ein guter Mensch. Zeitgenossen haben ihn als regelrecht schüchtern erlebt. Im Krieg organisierte und finanzierte er den akademischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Und er hatte ein Faible fürs Schöngeistige, vor allem für Musik. Zugleich mit dem Chemie- hatte er ein Geigen- und Gesangsstudium begonnen, bevor er sich, ach!, ganz der Forschung zum Wohle der Menschheit widmete, rein zivil.

Zwischen den Zeilen seines eher spröden Referats über seine Entdeckung meint man, im Understatement den Stolz mitschwingen zu hören, wenn er verspricht, dass diese verwandelte Essigsäure „vor allem unter physikalisch-chemischen Gesichtspunkten von einigem Interesse“ sein könnte.

Ob er auf den Nobelpreis gehofft hat? Verdient gehabt hätte er ihn. Der Stoff ist nicht bloß etwas völlig Neues. Er ist auch unendlich praktisch. Das macht ihn ja so verhängnisvoll: Er ist der kleinste Grundbaustein für die meisten längerkettigen PFAS. Raketentechnik, Löschschaum, Narkoseapparate, Windanlagen, Medikamente, Fungizide, Pizzakartons und Pestizide, es gibt zahllose Bereiche, in denen es selbst, seine Derivate, direkt oder als prozessbeschleunigendes Hilfsmittel bei der Fertigung zum Einsatz kommt. Swarts hat diese Tür aufgestoßen.

Aber Wimpfen liegt ja in Deutschland, und ohnehin gehört der Brunnen nicht zum Trinkwasser­system

Das Institut für pharmazeutische und medizinische Chemie der Uni Freiburg sitzt im Otto-Krayer-Haus, unweit vom Bahnhof. Im Labor zeigt Michael Müller seine Weinsammlung: alte Flaschen, entstaubt, aber mit Firnis. Ein paar ehrfurchtgebietende Einzelstücke sind dabei, ein Portwein aus den 1920er-Jahren, ein Bordeaux von 1940: Das alles sind Studienobjekte.

Denn, dass es TFA früher nicht gegeben hat, belegen Untersuchungen in Eisbohrkernen. Aber wie es in die Welt kam und sich dort verbreitet, lässt sich noch präziser durch die Analyse von Wein verfolgen. Guter Wein wird immer an derselben Stelle geerntet. Auf den Etiketten steht, woher er kommt, und in welchem Jahr die Trauben gekeltert wurden.

Erste Spuren von TFA haben Müller und sein Team in den späten 1960ern gefunden. Danach ein allmählicher Anstieg, bis zur Jahrtausendwende. Und dann schnellt die Kurve nach oben, mittlerweile ist sie fast senkrecht: Die Winzerverbände waren sauer, als die Ergebnisse präsentiert wurden, aber sie können sich entspannen: „Der Wein ist für uns ein Zeitfenster“, sagt Müller. Er dient als Medium, in dem sich die Entwicklung abzeichnet, die in allen Pflanzen zu erwarten ist, in Obst, in Gemüse, in Stauden, Blättern und in Knollen.

Das ist dramatischer als die Belastung von Trinkwasser. Da gibt es für Haushalte zumindest eine theoretische Möglichkeit, den Stoff mit Nanoporen rauszufiltern, das wird dann auch mineralstofffreies Wasser. Aber bei Zucchini oder Äpfeln geht das eben nicht. In ihren Zellen aber reichert sich das TFA an, ähnlich wie längerkettige PFAS beispielsweise in Wildschweinleber. Die darf deshalb in Deutschland nicht mehr in den Handel gebracht werden. Sie ist zu giftig.

Der Umweltchemiker Hans Peter Arp, Professor am Norwegischen Geotechnischen Institut und an der Norwegischen Technischen Uni warnt deshalb, dass TFA die planetaren Belastungsgrenzen bedrohe. Auch wenn die Effekte noch nicht genau erforscht sind, dass sie eintreten werden ist klar: Allein die wachsende Konzentration dieses neuen Stoffs sei ab einem bislang unvorhersagbaren Punkt geeignet, disruptive Wirkung zu entfalten, hatte er in einer Anhörung im Europaparlament erläutert. Und „da TFA sich global anreichert und über einen langen Zeitraum bestehen bleibt, wären negative Auswirkungen ebenfalls global und langfristig zu erwarten“, erklärt er der taz. „Die Erde würde das Holozän verlassen, in dem sich die Menschen entwickelt haben.“

Überall wo TFA gemessen wird, findet sich dieser Anstieg. Dafür gibt es Gründe: Einer ist ausgerechnet das Montreal-Protokoll, also die Ächtung der FCKWs, um die Ozonschicht zu schließen. Ein wichtiger Erfolg. Ersetzt wurden sie seinerzeit allerdings oft durch TFA-haltige Kälte- und Triebmittel. Asthmasprays zum Beispiel bringen gegenwärtig 11.000 Tonnen der entsprechenden Fluorgase in die Atmosphäre ein – die dann im Regen niederfallen.

Die Chemie­fabrik im Tal: Solvay stellt die Produktion von Trifluor­essigsäure zum Jahres­ende ein Foto: Lari Bat/Dreamstime/imago

Perfluorierte Wirkstoffe finden sich auch in Medikamenten, mittlerweile gehört fast jeder vierte neue Arzneistoff dazu, erklärt Müller. Mit seiner Arbeitsgruppe hat der Pharmazie-Prof zuletzt genau zu diesem Thema geforscht. Auf einem großen Flatscreen in seinem Büro sind alle weltweit 111 PFAS-Arzneistoffe aufgeführt, besonders hervorgehoben die 70, die derzeit in Deutschland zugelassen sind. Für sie hat die AG Müller nach Alternativen gesucht. Ergebnis: So gut wie jeder PFAS-Wirkstoff ist durch einen nicht fluorierten ersetzbar.

Argumentativ ist das entscheidend. Denn Humanmedizin genießt ja in der Praxis immer eine Sonderstellung. Das europaweite PFAS-Beschränkungsverfahren, das die Umweltbehörden von Belgien, Norwegen, Dänemark, den Niederlande und Deutschland 2023 angeregt hatten, spart diesen Bereich deshalb vorsorglich aus. Aber dazu bestehe eben kein Anlass, sagt Müller: „Es gibt selbst im Medizinbereich die Alternativen. Wenn es aber im Medizinbereich Alternativen gibt, wo wäre das alternativlos?“

Man müsste es also wollen, politisch wollen. Die Gelegenheit wäre günstig, wo die Hersteller in Europa und den USA zu Beginn des kommenden Jahres die Segel streichen. Und Baden-Württemberg, wo im kommenden Jahr gewählt wird, ist PFAS-Land. Erst im Mai hatte die Arbeitsgemeinschaft Wasserwerke Bodensee-Rhein Alarm geschlagen: Die TFA-Konzentration im Rhein nördlich von Basel hat sich nämlich innerhalb der letzten acht Jahre mehr als verdoppelt. Eine Lösung fürs Problem durch Filtertechnik fehlt. Also könne man dann irgendwann kein Trinkwasser mehr herstellen, sobald es einen Standard dafür gibt. Die Arbeitsgemeinschaft versorgt rund zehn Millionen Menschen, weit ins Land hinein, bis hoch in den Kraichgau, nach Bad Wimpfen zum Beispiel. Sie fordert ein „konsequentes Verbot aller Ewigkeits-Chemikalien“.

Früher bestand bei dem Thema Dissens zwischen dem grünen Umwelt- und dem grünen Wirtschaftsministerium auf Bundesebene. Der neue Koalitionsvertrag aber erteilt dem Ziel eines PFAS-Ausstiegs eine krasse Absage. Unter dem Vorsitz von Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU), Baden-Württemberg, hatte auch die Wirt­schafts­mi­nis­te­r*in­nen­kon­fe­renz im Juni erneut bekräftigt, dagegen zu sein, und Panik geschürt. Bei einem Verbot würden ganze Produktionsbereiche in der EU wegbrechen, hatte Hoffmeister-Kraut in Stuttgart gewarnt, und das Gespenst einer drohenden Deindustrialisierung heraufbeschworen.

Auf der Homepage des Landes-Umweltministeriums heißt es zwar: „Baden-Württemberg steht hinter PFAS-Verbots-Initiative“. Aber in dem Brief, den Ressortchefin Thekla Walker (B90/Grüne) in der Sache an Bundes-Umweltminister Carsten Schneider (SPD) geschickt hat, ist nur noch die Rede davon dass doch bitte die „festgelegten bzw. in Diskussion stehenden (Grenz-)Werte auf Widersprüchlichkeit zu prüfen“ seien. Harmonisiert wären sie doch viel besser. Ob das zur Profilierung im Wahlkampf reicht?

Dabei müsste es darum gehen, die Quelle zu verstopfen, for good: „Was wir brauchen, ist ein Konsens“, hatte Müller eine Idee skizziert, wie die Menschheit aus der Nummer rauskommen könnte, „ein Konsens von Industrie, Politik und Gesellschaft, dass wir auf diese Stoffgruppe verzichten.“ Das wäre mal ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.

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