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Ein Spiel für elf Holzhacker

Der deutsche Fußball leidet unter einem ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex: Weil die Überzeugung herrscht, dass dem germanischen Kicker brillanter Fußball grundsätzlich verwehrt ist, probiert man ihn gar nicht erst, sondern setzt auf die berüchtigten „deutschen Tugenden“. Die werden immer nutzloser

von MATTI LIESKE

„Der Deutsche wird nie ein Brasilianer!“ So lautet eine der verbreitetsten und verräterischsten Binsenweisheiten im deutschen Fußball. Noch verräterischer, dass sie besonders häufig von Leuten wie Franz Beckenbauer und Günter Netzer im Munde geführt wird. Selber einst begnadete Spieler, die dem, was die Qualität des brasilianischen Fußballs ausmacht, Ballgefühl und Inspiration, hierzulande so nahe kamen wie niemand sonst. Gerade sie sollten es eigentlich besser wissen.

Doch es ist bezeichnend, dass selbst Netzer, dessen Freistöße es mit jenen eines Zico locker aufnehmen konnten, oder Beckenbauer, dessen Fußgelenkpässe selbst den unvergleichlichen Pelé faszinierten, sich dem Minderwertigkeitskomplex nicht entziehen können, der seit Herbergers Zeiten in deutschen Landen wuchert und dafür sorgt, dass sich ganze Generationen als Erfüllungsgehilfen der fatalen deutschen Tugenden verstehen: Rennen, kämpfen, nicht aufgeben bis zur letzten Minute. Der klassische Fall einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Der Deutsche kann nicht Fußball spielen, also kann der Deutsche nicht Fußball spielen. Eine Mentalität, die so lange zum Erfolg führt, wie andere weniger rennen, weniger kämpfen, weniger Siegeswillen zeigen. Wenn aber Moldawier und Finnen plötzlich nicht nur technisch besser, sondern auch läuferisch überlegen sind, und sogar englische Teams anfangen, in der Nachspielzeit entscheidende Tore zu schießen, ist der Weg in die Mediokrität vorgezeichnet.

Entstanden ist der Mythos vom tapferen deutschen Holzhackerbuben auf dem grünen Rasen in den Fünfzigerjahren, seinen Ursprung darf man in Bern vermuten. Da ging Sepp Herbergers Saat von der verschworenen Gemeinschaft auf, der Geist von Spiez spukte durchs Wankdorfstadion und im Endspiel der WM 1954 wurden die virtuosen ungarischen Ballzauberer in den regentiefen Grund und Boden gerackert. 3:2 nach 0:2-Rückstand, wer wollte da noch behaupten, dass ehrliche Arbeit und Tapferkeit keine Chance gegen raffiniertes Künstlertum hätten.

Die nächsten zehn Jahre im Weltfußball gehörten den Südamerikanern, Spaniern und Italienern, die Weltmeisterschaften und europäische Pokalwettbewerbe dominierten. In Deutschland wuchs derweil das Ressentiment. Schon in den Jugendteams der Vereine lernten die fußballbegeisterten Kinder, dass es die höchste Erfüllung bedeute, neunzig Minuten am Trikot des Gegners zu kleben und aussichtslosen Bällen bis ins Klubheim hinterher zu rennen. Dribblings waren verpönt, „Ballverliebtheit“ galt als Todsünde und wer bei einem Hackentrick erwischt wurde, durfte sich das nächste Spiel von draußen anschauen. Jugendbücher über Fußball hießen „Elf Freunde sollt ihr sein“; trickreicher, raffinierter Fußball wurde mit dem Verdikt „brotlose Kunst“ belegt, Individualismus war von Übel, die Mannschaft alles. Eine ballbezogene Lustfeindlichkeit, die viele hoch talentierte Kids frühzeitig verprellte. Charakteristisch für die Geringschätzung ästhetisch ansprechenden Fußballs waren die Pfiffe, die sich ein Beckenbauer seine ganze Karriere hindurch gefallen lassen musste, weil sein Spiel so elegant und leicht aussah.

Die Inferiorität und Eigenbrötelei des deutschen Fußballs sorgte damals für eine relative Geringschätzung internationaler Wettbewerbe, die sich auch darin ausdrückte, dass die Deutschen an den ersten Europameisterschaften 1960 und 1964 nicht teilnahmen. Dann ging es plötzlich aufwärts, doch seltsamerweise brachte das 1966 eingeläutete fußballerische Hoch mit grandiosen Technikern wie Haller, Beckenbauer, Netzer, Overath oder dem Garrincha-gleichen Libuda keine grundlegende Neuorientierung. Die Künstler in der Bundesliga wurden nicht als realistisches Modell für die Zukunft, sondern als bunte Vögel betrachtet, die immer Ausnahmen bleiben würden. Bei den Jugendtrainern behielten Liegestütze und Waldläufe ihren Vorrang vor dem Vergnügen mit dem Ball, die Brasilianerproduktion lag weiterhin brach.

Damit einher ging eine nahezu vollständige Ignoranz gegenüber den Entwicklungen im Weltfußball, die sich schließlich in den Neunzigerjahren fatal auswirken sollte. Wir interessieren uns nicht für den Gegner, sondern spielen unser Spiel, lautete ein bevorzugtes Trainerstereotyp der dummen Art, und bis heute existiert eine fast flächendeckende Geringschätzung taktischer Finessen. „Die sollen rennen“, sagt Uli Hoeneß, und hat insofern Recht, als ohne extensive Laufarbeit keine Taktik der Welt funktioniert. Der Hochmut, mit dem das Entsetzen ausländischer Trainer über die taktischen Defizite, die sie bei Bundesligaklubs vorfanden, stets abgetan wurde, zeigte jedoch, dass der Minderwertigkeitskomplex munter weiter wirkt und sich nicht selten als Aggression nach außen entlädt. Wir sind eben keine Brasilianer, wir haben unsere eigenen Methoden, und „was früher gut war, kann heute nicht plötzlich schlecht sein“, wie es Herr Beckenbauer zu formulieren beliebte.

Während man überall sonst in den großen Fußballnationen nach der WM 1990 daran ging, die Spielsysteme zu modernisieren und auf jene Raumdeckung umzustellen, die der AC Mailand so brillant praktizierte, hielt man in Deutschland stur an Manndeckung und Libero fest. Der für lange Zeit einzige Versuch, die Viererkette in der Bundesliga einzuführen, war kurioserweise der von Erich Ribbeck 1993 bei den Bayern. Die hämischen Kommentare, die sich der Trainer damals von Kollegen, Spielern und Medien anhören musste, könnte man heute gut als Kompendium deutscher Fußballignoranz herausgeben. Das Experiment wurde auf Geheiß von Bayernpräsident Beckenbauer beendet, und der Ex-Teamchef war es auch, der nach der WM 1994, wo sich die Antiquiertheit der DFB-Mannschaft klar gezeigt hatte, apodiktisch verkündete, man müsse gar nichts ändern. Berti Vogts hörte es mit Vergnügen.

Nicht einmal der blamable Auftritt in Frankreich 1998 hat für großartiges Umdenken gesorgt. Zwar kommen jetzt, nach zehnjähriger Verspätung, einige Trainer auch in der Bundesliga mit partieller Raumdeckung, aber in typisch deutscher Weise tun sie es oft mit einem solch oberlehrerhaften und kurios verwissenschaftlichten Impetus, dass einen das Scheitern kaum wundert. Jüngere Entwicklungen, etwa das Spiel mit Außenstürmern, welches nach Ajax Amsterdam viele führende Vereinsteams wie Manchester United, FC Barcelona oder Arsenal London in ihr Repertoire aufgenommen haben, finden kaum Niederschlag.

Immerhin hat DFB-Teamchef Erich Ribbeck einige Zeit mit dem Außenstürmermodell geliebäugelt. Der Verzicht auf solche Leute wie Beinlich und Neuville vor der EM zeigt jedoch, dass der neumodische Kram wieder einmal keine Chance hat. Das DFB-Team setzt auf vertraute Werte: rennen, kämpfen, nicht aufgeben. Der Deutsche wird schließlich nie ein Brasilianer.

MATTI LIESKE, 48, ist Redakteur der Leibesübungen in der taz

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