: Ein Spiel für Übergeschnappte
Champions League Dem FC Barcelona gelingt bislang Einmaliges. Nach einer schier unerklärlichen Schlussphase deklassiert das Team Paris St.-Germain mit 6:1 und macht damit die 0:4-Hinspielniederlage wett. Ein Wunder – zumal Barça seinem Stil untreu wird
Aus Barcelona Florian Haupt
Der Tag nach dem Wunder. Flimmernde Bilder im Kopf, Tinnitus in den Ohren, der Lärm von 100.000, die schon oft 100.000 waren, aber noch nie so laut. Um 9 Uhr morgens sind am Kiosk die Sportzeitungen ausverkauft. Und wer weiß, vielleicht steigt im Gesundheitsamt von Barcelona ja wirklich eine Strategiesitzung. „Stellt in den nächsten neun Monaten viele Krankenschwestern ein“, hatte Verteidiger Gerard Piqué schließlich empfohlen: „Denn heute Nacht wird viel Liebe gemacht.“
Ein Fußballwunder also, eines von der Sorte, wie sie nur alle Jubeljahre passieren. Um nicht zu sagen: eines wie noch nie. 1:5 war im Europapokal schon mal aufgeholt worden, auch 2:6. Aber noch nie ein 0:4, und warum ein 1:5 und ein 2:6 eben kein 0:4 sind, war nach der 62. Minute dieses Champions-League-Achtelfinals deutlich zu spüren gewesen. Da verkürzte Edinson Cavani für Paris St.-Germain auf 1:3, und der FC Barcelona musste plötzlich auf sechs Tore kommen. Unmöglich. Die ersten Zuschauer packten ihre Sachen, und als Ivan Rakitic ausgewechselt wurde, erhielt er stellvertretend eine dankbare Ovation für den mehr als anständigen Versuch einer Aufholjagd. Barça hatte das Heldentum gestreift, aber zu mehr schien es nicht zu reichen, und mehr konnte auch niemand verlangen. Es lief die 84. Spielminute, und es fehlten noch drei Tore.
Unmöglich? Es war die Stunde von Neymar. In der 88. Minute zirkelte er einen Freistoß in den Winkel und genauso entscheidend war seine Reaktion: Er peitschte Mitspieler und Publikum auf. Hier war einer, der wirklich noch daran glaubte. Im Nachhinein haben das natürlich immer alle, doch nicht jeder Mitspieler und schon gar nicht die Zuschauer haben die Wiederauferstehung so verinnerlicht wie der statistisch meistgefoulte Fußballer des Kontinents; einer, der provoziert und provoziert wird; der mit 25 Jahren schon das große Brasilien in Desaster (WM) und Erlösung (Olympia) anführte; dessen Transferschachteleien den eigenen Verein vor Gericht und in Verruf brachten. Dieser Neymar war jetzt on fire, er spielte „das beste Spiel meines Lebens“. Als Barcelona in der ersten Minute der Nachspielzeit einen Elfmeter geschenkt bekam, war es er und nicht wie noch 40 Minuten vorher Lionel Messi, der sich den Ball nahm. Und als in der 95. Minute die letzte Angriffswelle anstand, da „sagte ich zu Sergi, dass er in den Strafraum ziehen und den Ball suchen soll: dass er auf ihn gehen wird.“
Sergi Roberto ebenfalls 25, ist keiner, der einem Weltstar widersprechen würde. Sergi, klassisches Mittelfeldprodukt der Barça-Schule, ließ sich in der Saison klaglos als Rechtsverteidiger missbrauchen und wurde, derart positionsentfremdet, beim 0:4 im Hinspiel besonders gedemütigt. Sergi zog in den Strafraum, Sergi suchte den Ball und Sergi kam an den Ball. Wie? „Ich weiß es nicht mal“, sagte er später. Er wird es bis ans Ende seiner Tage erzählt bekommen, gern und immer wieder: Sergi flog in den Ball und versenkte ihn volley mit der Spitze des ausgestreckten Fußes. In der letzten Minute, mit dem letzten Zeh, der „große Sieg des Glaubens“ (Trainer Luis Enrique), durch Sergi Roberto, „der die Torgefahr schon in der Jugend verlor, von dem ich immer sage, der trifft noch nicht mal unter dem Regenbogen durch“ (noch mal Luis Enrique).
Ohne solche Ironien wohl keine Fußballwunder. Unter den weiteren Zutaten: die szenische Angst der Pariser, die vor dem entfesselten Publikum anfangs zu defensiv spielten, dann zu viele Chancen vergaben und am Ende, in der unerklärlichen Schlussphase, nur noch „in ein Loch schauten“, wie Mittelfeldspieler Adrien Rabiot stammelte, als die Franzosen von ihrem Begräbnis zum Mannschaftsbus mit der fast schon tragischen Aufschrift „Revôns plus grand“ (Lasst uns groß träumen) gingen. Außerdem: die deutschen Schiedsrichter um Deniz Aytekin, die alle strittigen Szenen zugunsten der Gastgeber auslegten, Paris zwei ziemlich eindeutige Elfmeter vorenthielten und Barcelona zwei ziemlich dubiose gaben, den zweiten zum 5:1 nach einer verzweifelten Schwalbe von Luis Suárez. Auch das gehörte zu dieser Nacht: dass Barça mehr durch seine Wettkampfhärte überzeugte als durch die eigentliche Hausmarke, den Fußball. Abseitsverdächtiges Stochertor, Eigentor, Elfmeter, Freistoß, Elfmeter – und Sergi Roberto. So lautete die Trefferfolge. „Wir haben unseren idealen Spielstil nicht gefunden“, räumte Luis Enrique ein. Und trotzdem oder gerade deshalb den letzten Baustein im Mythos der Generation Messi gesetzt.
„Dieser Sport ist etwas für Übergeschnappte“, resümierte Barças zum Saisonende scheidender Trainer, nachdem das sonst wohl kühlste Publikum des Kontinents das Camp Nou mit seinen Jubelsprüngen erzittern lassen hatte: „Keiner wird diese Nacht vergessen.“ Natürlich nicht. Und in neun Monaten werden dann auch die neuen Erdenbürger davon erfahren, in aller epischen Breite.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen