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Ein Rächer bei der „SC Farb“

Sind heutige Rationalisierungsopfer den Opfern der Nazis gleichzusetzen? Der Franzose François Emmanuel schildert in seinem Kurzroman einen Ausbeuter, der von Selbstentfremdung betroffen wird – „Der Wert des Menschen“

Am Schluss dieses Kurzromans von François Emmanuel erfährt man den Vornamen des Helden: Simon. Wie sein berühmter biblicher Namensvetter betreibt Simon das Geschäft des Menschenfischens. Aber anders als Simon Petrus geht es beim Fischzug nicht um die Sammlung der Seelen, sondern um deren Aussonderung.

Simon ist Betriebspsychologe der Firma „SC Farb“, der französischen Tochter eines gleichnamigen deutschen Chemiekonzerns. Durch Verfeinerung der Beurteilungskriterien der Mitarbeiter, durch Mannagertrainung, Seminare etc. hat er dazu beigetragen, dass „SC Farb“, die Tochter, Rationialisierungsmaßnahmen, sprich Rausschmisse, in großem Umfang durchführen konnte und jetzt wieder schwarze Zahlen schreibt. Dieser angepasste Anpasser gerät in eine Geschichte, aus der es keinen Ausweg gibt.

Er soll im Auftrag des deutschen Vizechefs den ebenfalls deutschen Chef der Filiale ausleuchten, einen eisernen Manager von geradezu gewalttätiger physischer Präsenz, dessen Benehmen allerdings in letzter Zeit Anlass zur Sorge gibt. Er zeigt sich mal geistesabwesend, mal cholerisch, in seinen zur Reinschrift bestimmten handschriftlichen Berichten an die Mutterfirma fehlen unerklärlicherweise bestimmte Worte. Offensichtlich hat Direktor Mathias Just ein ernstes mentales Problem.

Der Betriebspsychologe befindet sich in einer Zwickmühle. Kommt er dem Auftrag nach, könnte es sein, dass er in eine betriebliche Intrige verwickelt wird, deren Ursprung und Motive er nicht kennt und deren Ausgang er nicht abschätzen kann. Verweigert er aber den Auftrag, so gefährdet er seinen Job. Also macht er sich an Just heran – und wird ohnmächtiger Zeuge eines vollständigen seelischen Zusammenbruchs, dessen Folgen ihn selbst ereilen werden.

Emmanuels Roman-Exposition ist glänzend, wie bei einem gut gebauten Krimi. Man weiß, jetzt kommt die Geschichte hinter der Geschichte. Wir erfahren: Die Ursachen der Krise von Just liegen in fünf geschickt collagierten, an ihn gerichteten anonymen Briefen eines „Rächers“, der sich später dem Psychologen offenbart.

In diesen Briefen wird zweierlei enthüllt. Erstens: Justs Vater war in die Mordaktionen von Chelmno verwickelt, wo fast 100.000 jüdische Menschen durch Kohlenmonoxyd in „Gaswagen“ umgebracht wurden. Und zweitens: Zwischen dem teils verschleiernden, teils kalt-bürokratischen Jargon des (authentischen) Nazidokuments von 1942 zur technischen Verbesserung der „Gaswagen“ und dem Sprachduktus betrieblicher Analyse existieren bestürzende Übereinstimmungen. Beide Texte sind in den anonymen Briefen teils übereinander gedruckt, teils kunstvoll gemischt.

Just wird also mit der Erinnerung an seinen äußerst brutalen Nazivater konfrontiert, sein Zusammenbruch ist Folge des klinisch vielfach dokumentierten Syndroms, an dem Kinder von Naziopfern ebenso leiden wie Kinder der Täter. Obwohl die Krisengeschichte des Direktors Just Schicht für Schicht subtil abgetragen und in einer raffiniert einfachen Prosa erzählt wird, hinterlässt diese „Gechichte hinter der Geschichte“ doch Unbehagen.

Müssen hier nicht die Mordtaten der Nazis dazu herhalten, einem Psychodrama zur historischen Hintergrundschärfe zu verhelfen? Ist hier wirklich mehr am Werk als ein durchsichtiger literarischer Kunstgriff?

Noch problematischer ist der Versuch des Autors geraten, zwischen den Vernichtungsaktionen der Nazis und den Rationalisierungsmaßnahmen eines heutigen Industriebetriebs eine Art semantischer Gleichheitszeichen zu setzen.

Seit den philosophisch-ökonomischen, den „Pariser“ Manuskripten von Marx wissen wir, dass es keineswegs nur die Ausgebeuteten sind, die zu Opfern, auch mentalen Opfern, des kapitalistischen Produktionsprozesses werden. Auch die Ausbeuter und ihr Tross sind von der „Selbstentfremdung“ betroffen. Profitkalküle sind rational, aber dieser Rationalismus schlägt in seinen Mitteln wie in seinen Folgen in blinden Irrationalismus um. Das ist seit dem 19. Jahrhundert ein auch vielfach literarisch bearbeiteter Vorgang, den auf die Ebene der New Economy zu heben ein schriftstellerisch wie politisch verdienstvolles Unternehmen gewesen wäre.

François Emmanuel hat es sich mit seiner Hintergrundmalerei etwas zu einfach gemacht. Die Geschichte des Nazismus bildet nicht den Archetypus für das Umschlagen von Rationalität in Barbarei, sie nimmt auch nicht eine schreckliche Zukunft unter dem Diktat der aus dem Ruder laufenden instrumentellen Vernunft vorweg.

Der Psychologe Simon entschließt sich, von der Firma „SC Farb“ entlassen, seine Fähigkeiten künftig autistischen Kindern zuzuwenden. Er verweigert sich der Kapitalseite durch Rückzug. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten. CHRISTIAN SEMLER

François Emmanuel: „Der Wert des Menschen“. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Antje Kunstmann Verlag, München 2000. 100 Seiten, 29,80 DM

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