piwik no script img

Archiv-Artikel

Ein Loch ist im Eimer

■ Für Gewerkschaften im Revier ist der Ergänzungstarifvertrag bei Siemens ein Einzelfall ■ Die Arbeitgeber im Ruhrgebiet wollen mit Unternehmenstarifen Wettbewerbsvorteile erlangen

Das macht deutlich, dass die Internationalisierung von Gewerkschaften nicht funktioniert

35 Stunden reichen

Gewerkschaften befinden sich nach Siemens-Lösung in der Defensive. 40 Stunden sollen Ausnahme bleiben

Die Einführung der 40-Stunden-Woche in den Siemens-Werken Bocholt und Kamp Lintfort zum ersten Juli erhöht den Druck auf die Gewerkschaften. „Wir sind in der Defensive“, sagt Josef Hülsdünker, Regionsvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Emscher-Lippe. Arbeitnehmer müssten in der Zukunft mit faktischen Lohnsenkungen durch unbezahlte Mehrarbeit rechnen. Außerdem warnt er: „Die Standortsicherung wird oft als Vorwand zur Gewinnmaximierung missbraucht.“ Laut eines Berichts der Welt verhandeln bundesweit derzeit 100 Unternehmen um die Einführung der 40-Stunden-Woche. „Uns ist für die Region nichts bekannt“, sagt der Sprecher der nordrhein-westfälischen IG Metall, Wolfgang Nettelstroth. Von einen Dammbruch könne nicht gesprochen werden. “Im Gegenteil, wir haben gezeigt, dass wir uns nicht alles gefallen lassen“, so Nettelstroth. Man werde auch in Zukunft jeden einzelnen Fall prüfen.

Die Vereinbarung lässt sich laut Josef Hülsdünker nicht beliebig übertragen. „Gerade in der Emscher-Lippe-Region taugt das Modell nicht unbedingt zur Standortsicherung.“ Die Altindustrien seien schon längst weggebrochen. „Die Anforderungen sind jetzt andere“, so Hülsdünker. Gelsenkirchen habe NRW-weit das höchste Einkommen pro Erwerbstätigen und im oberen Lohnsektor seien die Arbeitsplätze sicher. Das Problem: Viele Leute in der Region sind arbeitslos - ohne Aussicht auf Einstellung. „Durch die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen“, so Josef Hülsdünker.

Ludger Hinse, Sekretär der IG Metall in Bochum, spricht von einer neuen Dimension: „Bislang wurden derartige Vereinbarungen in Betrieben getroffen, die vor dem Ruin standen“, jetzt sei dies erstmals geschehen, weil ein Betrieb seine Gewinnerwartung nicht erreicht hat. Für die Großindustrie im Ruhrgebiet befürchtet er dennoch keine Auswirkungen. In Bochum gebe es zwar drei Betriebe, in denen die 40-Stunden-Woche ebenfalls eingeführt wurde. Dies beträfe aber nur “zwei Prozent der im gesamten Bochumer Bezirk Beschäftigten, in großen Betrieben ist eine derartige Lösung mit uns nicht machbar“.

Heinz Cholewa, Genaralbevollmächtigter der IG Metall in Bocholt, verteidigt die „pragmatische Lösung“ bei Siemens. „Im Interesse der Menschen haben wir die Rahmenbedingung zur langfristigen Standortsicherung geschaffen.“ Natürlich sei allen Beteiligten klar gewesen, welche Folgen das Zugeständnis zur 40-Stunden-Woche habe: „Rüttgers und Merkel haben das Thema bereits ideologisch ausgeschlachtet.“ Die CDU-Politiker begrüßten das Ende des “deutschen Sonderwegs“ bei der 35-Stunden-Woche. „Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal so entscheiden“, sagt Cholewa.

Die Folgen für Arbeitnehmer und Gewerkschaften sind nicht abzusehen. Ludger Hinse warnt die Gewerkschaftskollegen vor weiteren Zugeständnissen: „Wir müssen aufpassen, dass wir im Rückwärtsgang nicht plötzlich stolpern“. HOLGER PAULER

40 Stunden als Trend

Wirtschaftsforscher rechnen mit und Arbeitgeber hoffen auf längere Arbeitszeiten. 40 Stunden seien realistisch

Siemens wird zur Blaupause für Unternehmen im Ruhrgebiet: Andreas Willmes, Sprecher des Arbeitgeberverbandes der Eisen- und Metallindustrie Emscher-Lippe, kündigt für seine Region Nachahmer an: „Wir sind in konkreten Gesprächen mit Unternehmen und der IG Metall“ sagt Willmes. Bei den Unternehmen gehe es um mehrere hundert Arbeitsplätze, mehr könne er nicht sagen, sagt Willmes.

Das sieht auch Heinz Thieler, Geschäftsführer des Unternehmensverbandes der Metallindustrie für Dortmund und Umgebung so. „Wir haben Mittelständler mit zusammen über 1.000 Mitarbeitern, die über eine Verlängerung der Arbeitszeit nachdenken“, sagt Thieler. Teilweise werde schon mit den Betriebsräten von Unternehmen gesprochen und die Gewerkschaftler „sind dabei über Jahre bekannte und vertrauliche Gesprächspartner“, sagt Thieler.

Zur Standortsicherung sei es wichtig, die Kosten für die Unternehmen niedrig zu halten, fordert Christoph Burghaus, Sprecher der Bochumer Industrie- und Handelskammer. Schließlich sei in einer Region mit einer Exportquote von 50 Prozent Kostenreduzierung notwendig. „Jetzt sind die Tarifpartner gefordert“, sagt Burghaus.

Deshalb fordert Dirk Erlhöfer, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Eisen- und Metallindustrie Bochum, „die Öffnungsklausel des Tarifvertrages mit Leben zu erfüllen“. Unternehmen mit „mehreren hundert Beschäftigten“ informierten sich im Verband über mögliche Ergänzungen, sagt Erlhöfer.

Für Hagen Lesch, Tarifexperte des Instituts für Deutsche Wirtschaft Köln, ist das normal. „Langfristig ist die 35-Stunden-Woche Historie“, prophezeit Lesch. Die bei Siemens gefundene Einigung verursache eine Kostenersparnis von rund 25 Prozent, sagt Lesch. „In diesem Fall kommt die Bewegung von den Beschäftigten“, sagt er, schließlich sei es um deren Jobs gegangen. Die Gewerkschaft habe die 35-Stunden-Woche politisch noch nicht aufgegeben, sich allerdings immer flexibel gezeigt, wenn es um Arbeitsplätze gegangen sei, sagt Lesch. „Eins ist sicher, seit etwa einem Jahr wir die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche enttabuisiert.“

Thomas Bauer, Vorstand des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen und Professor für Wirtschaftsforschung an der Universität Bochum ist sich sicher: „Der Dammbruch wird stattfinden.“ Realistischerweise müssten Arbeitnehmer davon ausgehen, in Zukunft 40 bis 42 Stunden in der Woche zu arbeiten, sagt Bauer.

„Das ist ein schönes Beispiel, was deutlich macht, dass die Internationalisierung von Gewerkschaften nicht funktioniert“, sagt Bauer. Die Ungarn hätten „ihren deutschen Kollegen ganz schön was erzählt“, wenn sie zur Solidarität mit den Siemens-Arbeitern in NRW aufgefordert worden wären, glaubt Bauer. Bei der Qualität der Arbeitnehmer in den neuen osteuropäischen EU-Ländern sei die Diskussion über die Arbeitszeiten längst fällig gewesen. „Denn wir sind Spitzenreiter im wenig arbeiten!“ ELMAR KOK